Vom 24.-26. Januar 2020 fanden an der Evangelischen Akademie in Hofgeismar zum zweiten Mal Lateinamerika-Gespräche statt. Im Zentrum stand die lateinamerikanische Perspektive auf globale Umweltkonflikte und ihre sozialen Verwerfungen. Immer wieder ging es in den theoretischen Erörterungen und praktischen Fallbeispielen um die Frage, wie eine Alternative zum gegenwärtigen rohstoff- und energieintensiven Wirtschaftsmodell aussehen könnte. Mit grosser Sorge wird der derzeitige Rechtsrutsch in vielen lateinamerikanischen Ländern beobachtet, der extraktivistischen Wirtschaftsaktivitäten weiter Vorschub leistet. Eine ausführliche Zusammenfassung der Tagung kann auf den Seiten der Akademie nachgelesen werden.
Positive Erfahrungen
Ich habe im Rahmen meines Sabbaticals an der Tagung teilgenommen und fand die Veranstaltung sehr anregend. Sehr bereichernd fand ich, dass die teilnehmenden Professoren und Professorinnen aus Bielefeld und Kassel – als eine Art Exkursion – ihre Studierenden mitgebracht hatten, die sich intensiv in die Diskussionen einmischten und kluge Fragen stellten. Inhaltlich beeindruckt hat mich die Videodokumentation von Sherin Abu-Chouka und Heiko Thiele (Verein Zwischenzeit e.V.), die zeigten, was unser FSC-Papier mit Landaneignung und Umweltschädigungen im Süden Chiles zu tun hat.

Sehr bereichernd für mich war auch der persönliche Austausch mit Rosa Lehmann von der Universität Jena, die sich in ihrer Dissertation mit den ökologischen und sozialen Konflikten im Zuge des Ausbaus der Windenergie im mexikanischen Oaxaca auseinandergesetzt hat. Eines der von ihr untersuchten Projekte nutze ich gerne als Fallstudie im Unterricht, um mit den Studierenden den Multi-Stakeholder-Ansatz und interkulturelle Probleme internationaler Projekte im Anlagenbau zu besprechen.
Auch den Vortrag des Historikers Antoine Acker von der Universität Zürich zur Umweltzerstörung am Amazonas fand ich sehr interessant.

Mir war neu, dass der Volkswagen-Konzern in den 70er Jahren grosse Gebiete im Amazonasgebiet aufgekauft hatte, die nur aufgrund massiver Abholzung urbar gemacht werden konnten. Theoretisch und konzeptionell hilfreich fand ich den Begriff der imperialen Lebensweise, den der Wiener Politologe Ulrich Brand in einer Key Note vorstellte. Unter imperialer Lebensweise versteht er unseren westlichen Lebensstil, den wir uns nur leisten können, weil wir dessen ökologische und soziale Folgen „externalisieren“, d.h. unser Wohlstand ist nur möglich, weil andere in Armut und zerstörter Umwelt leben. Sein Vortrag selber war mir zu professoral abgehoben, aber inhaltlich dennoch spannend. Ich überlege, ob ich das Buch zum Thema, das Brand mit seinem Kollegen Markus Wissen geschrieben hat, zur Besprechung im Podcast der Mikroökonomen vorstellen soll.

Kritikpunkte und Ausblick
Allerdings gab es im Rahmen der Panels oft zu wenig Zeit für die gemeinsame Lösungsdiskussion. Die Inputs waren zu lang (drei Referate hintereinander), so dass uns Zuhörern teilweise die Puste ausging. In der Feedback-Runde am Schluss äusserte denn auch eine Studentin, dass sie sich mehr interaktive Slots gewünscht hätte, um das Publikum stärker in die Lösungsfindung mit einzubeziehen. Zwar war die Tagung in dem Sinn interdisziplinär, dass mehrere Fachrichtungen vertreten waren. Sie beschränkten sich allerdings auf geistes- und sozialwissenschaftliche Sichtweisen. Aus meiner Sicht fehlten Vertreter aus wirtschafts- und ingenieurswissenschaftlichen Fächern. Diese hätten sicherlich für weitaus mehr Kontroverse gesorgt, aber auch für einen guten und komplementären Austausch. Der ist nötig, denn keiner von uns hat einen vollständigen Blick auf die Umweltprobleme Lateinamerikas. Andererseits zeigt es, dass die Hofgeismarer Lateinamerika-Gespräche noch viel Potenzial haben. Im Jahr 2021 finden sie vom 22. bis zum 24. Januar statt.
Pingback: Anthropogene Spuren im virtuellen Raum – Tertulia