Mord mit beschränktem Zutritt

Claudia Piñeiros Kriminalroman Betibú gibt den Lesern einen überzeugenden Einblick in das Leben einer „gated community“ in der Nähe von Buenos Aires.

Wenn „Country“ Stadt mit Mauern bedeutet

Die räumliche Ausdehnung Argentiniens entspricht in etwa der des indischen Subkontinents. Doch wer in dem südamerikanischen Staat etwas auf sich hält, meidet die Weite des Landes und zieht sich freiwillig hinter die luxuriösen Mauern bewachter Wohnsiedlungen zurück. So auch der Finanzier Pedro Chazarreta, der ein großes Haus in „La Maravillosa“, einem dieser künstlichen Orte südlich der Hauptstadt Buenos Aires, bewohnt. Bewachte Wohnsiedlungen oder „gated communities“ werden in Argentinien „country“ genannt und sind ein Inbegriff der Illusion des friedlichen und sicheren Landlebens.

Doch Sicherheit findet Chazaretta hier nicht. Nachdem bereits vor drei Jahren seine Ehefrau mit aufgeschlitzter Kehle im eigenen Wohnzimmer gefunden wurde, ereilt ihn das gleiche Schicksal. Der abgehalfterte Polizeireporter Jaime Brena und die Kriminalautorin Nurit Iscar spüren dem Fall gemeinsam nach. Die Schriftstellerin bezieht kurzerhand im Auftrag einer fiktiven argentinischen Tageszeitung, für die auch Brena arbeitet, ein Haus in der Siedlung, um besser ermitteln zu können. Die Grenzen zwischen Schriftstellerei und Journalismus verwischen sich. War es Selbstmord, wie die Polizei vermutet? Wer käme als Mörder in Frage? Eine Kette seltsamer Todesfälle aus dem Bekanntenkreis des Unternehmers reißt nicht ab. Ist das wirklich alles nur Zufall?

Krimi als Medienkritik

Claudia Piñeiro entwickelt leichtfüßig und beschwingt einen spannenden und gut zu lesenden Kriminalroman. Gleichzeitig kann man zwischen den Zeilen Kritik an der gegenwärtigen Politik und Gesellschaft Argentiniens lesen. Diese Bemerkungen stören das Lesevergnügen nicht, sondern steigern es. Besonders süffisant sind die Ausführungen über das Verhältnis von Presse und Politik. Diese zeigen sich vor allem in der angeblichen Feindschaft des Chefredakteurs der Zeitung „El Tribuno“, für die Brena und Iscar arbeiten, zum nicht namentlich genannten Präsidenten Argentiniens. Es ist leicht zu durchschauen, dass es sich dabei um ein Abziehbild der beiden Kirchners handelt.

Etwas mehr Tiefgang haben die Reflexionen, wie der Journalismus der Zukunft aussehen könnte. Im Streit der gestandenen Zeitungsleute mit den Nachwuchsjournalisten, in dem es darum geht, ob Google und Twitter oder doch eher die Recherche vor Ort besser funktionieren, wird mehr als einmal der Nestor des investigativen Journalismus in Argentinien, Rodolfo Walsh, zitiert. Immerhin kommen die Zeitungsleute durch ihre unterschiedlichen Methoden gemeinsam der Aufklärung des Falles näher als die Polizei. Auch diese Einladungen, über die zukünftige Medienwelt nachzudenken, sind eher Appetithäppchen denn schwerverdauliche Kost.

Literarische Bewertung

Piñeiro geht es um kluge Unterhaltung auf gutem, vermarktbarem Niveau, nicht ums Moralisieren. Nurit Iscars Klatsch und Tratsch im vertrauten Kreis ihrer Freundinnen – das sind Identifikationsmuster, die mich sonst beim Lesen eher nicht ansprechen. Dank subtiler Selbstironie sorgt Piñeiro jedoch jederzeit dafür, dass die Freundinnen der Protagonistin an keiner Stelle verkrampft und provinziell rüberkommen wie die „Desperate Housewives“. Ihre Dialoge sind lebensecht und erfrischend, auch in der deutschen Übersetzung. Die Erzählstruktur, die über einen Kriminalfall die privaten Schicksale der Beteiligten miteinander verbindet, ist konsistent und gradlinig. Es geht weniger darum, den Täter zu finden, als seine Motivation zu entschlüsseln.

Das Buch ähnelt nicht zuletzt seiner Titelfigur: Nurit Iscar wird wegen ihrer schwarzen Locken „Betibú“ genannt. „Betibú“ ist die spanische Verballhornung der US-Comicfigur „Betty Boop“ aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. „Betibú“ steht für frischen, vorlauten und unkonventionellen Sexappeal, der jedoch nie ganz frei von Selbstzweifeln ist – ein wenig so wie das Land, das die Autorin im Roman zeichnet.

Claudia Piñeiro ist eine der bekanntesten literarischen Stimmen Argentiniens. Sie repräsentierte ihr Land 2010 auf der Buchmesse in Frankfurt, als der südamerikanische Staat Schwerpunktthema war. Betibú ist, wie alle anderen deutschen Übersetzungen ihrer Romane, 2011 im Zürcher Unions-Verlag erschienen und über den ZVAB weiterhin erhältlich.

Diese Buchbesprechung stammt aus dem Archiv und wurde ursprünglich auf dem Informationsportal The Intelligence veröffentlicht.

 

María Gainzas Bildergeschichten

Zugegeben, es hat mich Überwindung gekostet, das Buch anzufangen. Nach meinem Besuch in Buenos Aires im Januar 2019 habe ich es doch gekauft. Dennoch hat es eine dreimonatige Quarantäne gebraucht, bis ich das Buch tatsächlich gelesen habe. Was hat mich so lange von der Lektüre abgehalten? Zwei Gründe waren es. Zum einen bin ich selber kein visueller Mensch. Es gibt nur wenige Bilder, die mich länger als 10 Minuten beschäftigen. Die meisten lassen mich kalt. Ich bevorzuge ausserdem Bilder, die die Natur mir bietet. Weshalb also sollte ich ein Buch lesen, indem es vor allem um die Wahrnehmung von Bildern geht? Zum anderen ist die Erzählerin, so erfahre ich bereits auf dem Klappentext, Kunsthistorikerin. Klischeehaft habe ich mir deshalb einen Roman vorgestellt, der versucht, dank einem Gemisch aus intellektuellem Gesäusel und etwas bildungsbürgerlicher Esoterik ein wenig Emotion zu erzeugen. Doch es kam ganz anders. Marías Gainzas Lidschlag ist ein sehr gutes Buch. Gainza erzählt unangestrengt und mit feiner Ironie von Bildern und den Geschichten, die sie mit ihnen verbindet.

Die Erzählerin

Damit sind wir auch schon bei der Frage, wie viel hat die Autorin mit der Erzählerin gemeinsam? Wie die Erzählerin hat auch die Autorin einmal Kunstgeschichte studiert, wenn auch ohne das Studium abzuschliessen. Sie schreibt seit vielen Jahren für angesehene Magazine über Kunst und kuratiert Ausstellungen. Wie die Erzählerin hadert sie mit ihrer Herkunft aus der grossbürgerlichen Oberschicht von Buenos Aires, die ihre besten Jahre hinter sich hat. Beide dürften so um die vierzig sein.

Die Erzählerin bringt uns mit ihrer ganzen Familie in Kontakt, wenn auch meist sehr zurückhaltend. Die Mutter, der Vater, der Halbbruder in San Francisco, die Oma, zu der sie während ihrer Jugend kurzzeitig zog. Und da sind auch ein Verlobter und ihr Mann, später ein Kind. Durch viele Rückblenden erscheint es manchmal so, als ob es nicht nur eine María wäre, die beobachtet und erzählt. Aber wer bleibt schon sein Leben lang dieselbe? Der Konflikt mit der Mutter zieht sich denn doch wie ein roter Faden durch den Roman. Eines Tages entdeckt die Erzählerin, dass ihre Mutter alle Spiegel im Auto so eingestellt hat, dass sie immer sich selber sieht (deutsche Übersetzung, S. 47). Auch Maria ist nicht frei von Selbstbezogenheit. Anders als ihre Mutter aber sucht sie nicht nur sich selbst in den Gemälden, sondern schafft es gerade durch diese, sich für einen Moment zu vergessen.

Geschichten und Bilder

In einem Interview mit Nathan Scott McNamara erklärt Gainza, wie sie auf die Idee kam, ihr Buch zu schreiben:

She walks me over to the bookshelf to show me the greatest influence on Optic NerveThe Story of Art by E. H. Gombrich, “That book for me was key,” Gainza says, holding the 670-page text adoringly in her hands. “It didn’t say the history of art. It said the story. Everything is a story. I used to read the way people were writing about art here—they were talking like lawyers. Mira,” she opens the cover page and shows me the handwritten date: London 1996. “This was a turning point for me. When I got back from London, I said, ‘I want to write about art.’ Something about the way he wrote was so easy, so readable. The way he doubled his voice or divided it and created a persona.”

https://lithub.com/an-afternoon-at-maria-gainzas-buenos-aires-home/

Der Roman besteht aus insgesamt 11 Episoden. In ihnen verbinden sich Reflexionen über ein Bild und seinen Maler mit Versatzstücken aus dem Leben der Erzählerin sowie ihrer Familie und Bekannten: Bilder als Ausgangspunkt von Assoziationsketten. So ergibt sich aus dem Buch eine schöne Mischung aus tagebuchähnlichen Einträgen, Kunstkritik und Künstlervignetten. Mir hat besonders gut gefallen, wie gut sie beobachten kann und wie genau und witzig sie diese Beobachtungen sprachlich umsetzt. Wenn ich manches Mal anfing zu überlegen, jetzt wirkt sie aber doch etwas unterkühlt, überrascht sie durch eine originelle Idee oder Beobachtung, die berührt. Gut gefallen hat mir auch, dass sie sich hauptsächlich auf Bilder bezieht, die in Museen in Buenos Aires besichtigt werden können. Dank der Verflechtungen von Bild, Künstlerbiografie und Erzählerleben werden die erwähnten Kunstwerke auch ohne Abbildung sehr gut vorstellbar.

Für diejenigen, die die besprochenen Bilder auch visuell geniessen wollen, hat María Gracia Chiaradia eine Diashow zusammengestellt, die alle vorgestellten Werke des Romans enthält:

Rezeption des Buches

Das Buch ist von der Kritik euphorisch aufgenommen worden (hier, hier, hier und vor allem Cees Noteboom). Der Roman, zunächst 2014 in einem kleinen argentinischen Verlag erschienen, ist inzwischen in 10 Sprachen übersetzt worden. Wie gut die deutsche Übersetzung von Peter Kultzen gelungen ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich habe die spanische Ausgabe von 2017 gelesen. Der Roman steckt voller visueller und sprachlicher Anregungen. Die Erzählerfigur María gibt dem Ganzen sehr viel Kohärenz, auch wenn die Episoden wenig berechenbar werden. Der positiven Kritik schliesse ich mich also gerne an.

„Wir verlieren Lateinamerika“

Das gab es lange nicht: endlich einmal wieder ein literaturkritischer Schwerpunkt Lateinamerika! Die neue Ausgabe des Rezensionsforums literaturkritik.de widmet sich der aktuellen Literatur aus Brasilien und den spanischsprachigen Ländern Amerikas. Ich habe selber noch nicht alles gelesen, finde es aber erfrischend und ermutigend, dass sich die deutschsprachige Literaturkritik dieser geografischen Region erneut anzunähern versucht.

Diese Kulturvermittlung vollzieht sich überraschenderweise immer noch vor allem über eine Person: Das ist Michi Strausfeld, die seit den 80er Jahren als Lektorin beim Suhrkamp Verlag dafür gesorgt hatte, die lateinamerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Im Studium war sie für mich ein grosses Vorbild. Ein Interview mit ihr steht im Zentrum der Ausgabe des Rezensionsforums. Strausfeld äussert sich besorgt darüber, dass die kulturellen Kontakte zu dieser so vielfältigen aber auch schwierig zu fassenden Region verloren gehen. Von ihr stammt auch das Zitat, das diesem Beitrag den Titel gibt.

Wann haben Sie zuletzt einen lateinamerikanischen Roman gelesen? Vielleicht finden Sie in der aktuellen Ausgabe der literaturkritik.de ein paar Anregungen oder schauen immer wieder bei mir vorbei.

Ich habe gerade Maria Gainzas El nervio óptico gelesen (auf Deutsch unter dem Titel Lidschlag bei Wagenbach erschienen) und werde das Buch demnächst auf diesem Blog vorstellen.