Polarisierung

Die Fundación del Español Urgente (FundéuRAE), die von der Real Academia Española (RAE) und der Nachrichtenagentur EFE getragen wird, hat „polarización“ zum Wort des Jahres 2023 gewählt. Die Wahl regt zum Nachdenken an, nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch in Bezug auf das soziologische Phänomen, das es beschreibt. Wie können wir die Fähigkeit, den Konsens zu suchen oder aber auch die Differenz zu ertragen, wieder erlernen?

Das Wort des Jahres

Die Stiftung begründet ihre Wahl mit der starken Präsenz des Begriffs in den Medien und der Bedeutungsentwicklung, die er durchlaufen hat. Als der Begriff 1884 erstmals in das Wörterbuch der RAE aufgenommen wurde, wurde er im rein physikalischen Sinn definiert, nämlich als Aktion und Wirkung, die die Pole betreffen. Im Jahr 1985 wurde ein Zusatz ergänzt, der inzwischen nicht mehr enthalten ist und darauf hinweist wie sich der Begriff über die Naturwissenschaften hinaus zu verbreiten begann: „In der Sprache der Wirtschaft der Prozess, durch den sich die meisten Industrien in bestimmten Gebieten eines Territoriums konzentrieren“. In der Ausgabe von 2001 hat sich der Begriff „polarisieren “ – und folglich auch die entsprechende Substantivierung – allgemeinsprachlich vor allem in der Bedeutung „sich in zwei entgegengesetzte Richtungen entwickeln“, also im Sinne von spalten oder trennen durchgesetzt.

Die Stiftung nennt Beispiele für die Verwendung des Wortes auf globaler Ebene: die Polarisierung der Gesellschaft, die Polarisierung in der Politik, die Polarisierung der öffentlichen Meinung, die Polarisierung der in den sozialen Medien geäußerten Meinungen usw. In diesem Sinne wird Polarisierung verwendet, um die Bedeutung einer Teilung in zwei große Blöcke oder Positionen zu vermitteln, sozusagen ein binäres Schema. Das Wort wurde aus zwölf Kandidaten ausgewählt: amnistía, ecosilencio, euríbor, FANI, fediverso, fentanilo, guerra, humanitario, macroincendio, seísmo y ultrafalso.

Polarisierung in der spanischen Gesellschaft

Die Präsenz des Wortes Polarisierung in den Medien ist weltweit zu beobachten, aber gibt es Indikatoren, die darauf hindeuten, dass die Polarisierung auch in Spanien ein zunehmendes gesellschaftliches Thema ist?

Wenn ich einen Blick auf die öffentliche Meinung in Spanien werfe, kann ich nicht sofort schlussfolgern , dass Spanien unter politischer oder gesellschaftlicher Polarisierung leidet.

Wie die obige Umfrage zeigt, hat Spanien anhaltende wirtschaftliche Sorgen, die hauptsächlich auf die hohe Arbeitslosenquote zurückzuführen sind, während die Löhne durch die Inflation aufgefressen werden. Diese werden als grosses Problem erlebt. Allerdings hat sich Spanien in den letzten Jahren vergleichsweise als ein Leuchtturm der sozialen Stabilität erwiesen. Während der Pandemie gab es einen vergleichsweise großen gesellschaftlichen Konsens über die von der Regierung ergriffenen Massnahmen. Als der Krieg in der Ukraine begann und die Inflation anstieg, war Spanien an vorderster Front dabei, den Geldbeutel seiner Bürger durch wirtschaftliche Maßnahmen zu schützen, wie die kostenlose Nutzung des ÖV, die Senkung der Mehrwertsteuer für wichtige Lebensmittel usw.

Wenn ich jedoch die sozialen Medien und die Kommentare in spanischen Zeitungen lese, wird die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft deutlich. Der allgemeine Ton ist aggressiv und lässt wenig Raum für Nuancen oder die Bereitschaft, zu akzeptieren, dass beide Seiten ihren Standpunkt vertreten könnten. Dies ist nicht nur ein subjektiver Eindruck von meiner Seite. Der Demokratiebericht 2022 stellt fest, dass soziale Unruhen und die Verkettung von Krisen Spanien zu einem der 30 Länder gemacht haben, in denen die politische Polarisierung in den letzten zehn Jahren am stärksten zugenommen hat. Das Zentrum für Wirtschaftspolitik und politische Ökonomie (ESADE) kommt zu demselben Schluss. Die Polarisierung in Spanien hat zugenommen, wobei die Menschen sich vor allem über ideologische und identitäre Themen streiten als über die operative Politik. Hier ist eine Übersetzung des Executive Summaries des Berichts (oben verlinkt).

  • Spanien erlebt seit Jahren eine wachsende affektive und ideologische Polarisierung: Die politischen Parteien Spaniens liegen in ihrer ideologischen und territorialen Positionierung immer weiter auseinander und die Emotionen der Wählenden der eigenen Partei gegenüber den anderen gehören zu den negativsten der Welt.
  • Spanien ist in Bezug auf (ideologische oder territoriale) Identitätsfragen viel stärker polarisiert als in Bezug auf bestimmte öffentliche Politiken. In den analysierten Daten ist die ideologische und territoriale Polarisierung zwei- bis dreimal höher als die Polarisierung in Bezug auf Steuern und Einwanderung, etwa sechsmal höher als die Polarisierung in Bezug auf die öffentliche Gesundheitsversorgung und etwa fünfzehnmal höher als die nicht vorhandene Polarisierung in Bezug auf öffentliche Dienstleistungen.
  • Was die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus betrifft, so deuten die verfügbaren Daten aus der ersten Welle der Pandemie darauf hin, dass sich die Präferenzen für die wirksamsten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nicht zwischen den ideologischen Gruppen unterscheiden.
  • Die in dem Bericht aufgezeigten Daten haben eine wichtige Auswirkung auf die Verbesserung der öffentlichen Debatten: Die Diskussion über spezifische Maßnahmen kann dazu beitragen, die Spannungen zu entschärfen, die auf ideologischer und territorialer Ebene gewachsen sind.

Mir fallen spontan zwei Beispiele ein, die deutlich machen, wie emotional und ideologisch die derzeitige Polarisierung ist und wie sehr sie der Gesellschaft insgesamt schaden kann. Die beiden großen politischen Parteien des Landes, PP und PSOE, ziehen es vor, mit extremeren Parteien zu reden, als miteinander über wichtige Verfassungsfragen zu sprechen. Das finde ich schwer nachzuvollziehen, auch wenn sich beide in der Vergangenheit als Hauptgegner betrachtet haben. Heute gibt es größere und gefährlichere Gegner im Parteienspektrum. Die gewalttätigen Reaktionen auf den Plan der neuen Regierung, den katalanischen Separatisten Amnestie zu gewähren, sind ein weiteres gutes Beispiel für die identitäre Polarisierung (ich dachte deshalb auch, dass „amnistía“ das Rennen um das Wort des Jahres gewinnen würde). Ich könnte mit Beispielen weitermachen: Die Menschen streiten weniger über Interessen als über grundsätzliche Positionen.

Was können wir tun?

Wie schade! Immerhin ist Spanien laut InterNations immer noch das zweitbeste Land zum Leben für Expats. Wie der obige Bericht vorschlägt, könnte der Fokus auf konkrete Politikmaßnahmen bei der Argumentationsfindung ein wenig dazu beitragen, die Polarisierung zu verringern. Dies setzt jedoch die Bereitschaft voraus, sich die Argumente der anderen anzuhören. Wie kann dies erreicht werden, wenn sich niemand zur Mäßigung der eigenen Meinung verpflichten will oder nicht zuhört? Die Einbeziehung der Bürger und Bürgerinnen auf verschiedenen Ebenen in die politische Entscheidungsfindung könnte ein weiterer Weg sein, um Debatten zu fördern, in denen es darum geht, die wirklichen Probleme der spanischen Gesellschaft zu überwinden: Jugendarbeitslosigkeit, negative Klimaauswirkungen (z. B. die Dürre in Katalonien oder im Süden) und die Schwäche des Bildungssystems.

Die Initiative España Mejor scheint in diese Richtung zu gehen. Sie klingt ein wenig wie die Schweizer Operation Libero, eine überparteiliche Bewegung in der Schweiz, die Ideen für eine offene und liberale Gesellschaft fördert.

Nuestro objetivo es canalizar la frustración de los ciudadanos y convertirla en acción. Aprovechar el talento y trabajar juntos para una España Mejor.

Webseite España Mejor

Ich denke auch, dass zahlreiche Medien- und Technologieunternehmen ihre Verantwortung für die zunehmende Polarisierung erkennen müssen. Ohne ihre aggressive Jagd nach Klicks wäre die Polarisierung nicht da, wo sie jetzt ist. Je radikaler die Meldung, desto mehr Aufmerksamkeit, desto radikaler die Reaktionen,… – ein Teufelskreis. Ohne neue Geschäftsmodelle und ein klares Bekenntnis zu ethischen Grundsätzen in den Medien, wird die Polarisierung weiter zunehmen. Ich selbst habe mir vorgenommen, in Zukunft Superlative zu vermeiden. Vielleicht ist auch dies bereits ein kleiner sprachlicher Schritt, mich gemäßigter zu äußern.

Habt Ihr weitere Ideen, wie wir die medial angeheizte Polarisierung abschwächen können? Oder haltet Ihr die Polarisierung für eine positive Entwicklung, weil schwierige Entscheidungen klare Positionen erfordern? Denn nicht nur in Spanien ist Polarisierung ein großes Thema. Im Superwahljahr 2024 ist mit einer weiteren Radikalisierung ideologischer Positionen zu rechnen.

Das Original dieses Beitrags ist in englischer Sprache als Newsletter auf Substack erschienen (Bild einfach anklicken):

Ein Gedanke zu “Polarisierung

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