Zugegeben, es hat mich Überwindung gekostet, das Buch anzufangen. Nach meinem Besuch in Buenos Aires im Januar 2019 habe ich es doch gekauft. Dennoch hat es eine dreimonatige Quarantäne gebraucht, bis ich das Buch tatsächlich gelesen habe. Was hat mich so lange von der Lektüre abgehalten? Zwei Gründe waren es. Zum einen bin ich selber kein visueller Mensch. Es gibt nur wenige Bilder, die mich länger als 10 Minuten beschäftigen. Die meisten lassen mich kalt. Ich bevorzuge ausserdem Bilder, die die Natur mir bietet. Weshalb also sollte ich ein Buch lesen, indem es vor allem um die Wahrnehmung von Bildern geht? Zum anderen ist die Erzählerin, so erfahre ich bereits auf dem Klappentext, Kunsthistorikerin. Klischeehaft habe ich mir deshalb einen Roman vorgestellt, der versucht, dank einem Gemisch aus intellektuellem Gesäusel und etwas bildungsbürgerlicher Esoterik ein wenig Emotion zu erzeugen. Doch es kam ganz anders. Marías Gainzas Lidschlag ist ein sehr gutes Buch. Gainza erzählt unangestrengt und mit feiner Ironie von Bildern und den Geschichten, die sie mit ihnen verbindet.

Die Erzählerin
Damit sind wir auch schon bei der Frage, wie viel hat die Autorin mit der Erzählerin gemeinsam? Wie die Erzählerin hat auch die Autorin einmal Kunstgeschichte studiert, wenn auch ohne das Studium abzuschliessen. Sie schreibt seit vielen Jahren für angesehene Magazine über Kunst und kuratiert Ausstellungen. Wie die Erzählerin hadert sie mit ihrer Herkunft aus der grossbürgerlichen Oberschicht von Buenos Aires, die ihre besten Jahre hinter sich hat. Beide dürften so um die vierzig sein.
Die Erzählerin bringt uns mit ihrer ganzen Familie in Kontakt, wenn auch meist sehr zurückhaltend. Die Mutter, der Vater, der Halbbruder in San Francisco, die Oma, zu der sie während ihrer Jugend kurzzeitig zog. Und da sind auch ein Verlobter und ihr Mann, später ein Kind. Durch viele Rückblenden erscheint es manchmal so, als ob es nicht nur eine María wäre, die beobachtet und erzählt. Aber wer bleibt schon sein Leben lang dieselbe? Der Konflikt mit der Mutter zieht sich denn doch wie ein roter Faden durch den Roman. Eines Tages entdeckt die Erzählerin, dass ihre Mutter alle Spiegel im Auto so eingestellt hat, dass sie immer sich selber sieht (deutsche Übersetzung, S. 47). Auch Maria ist nicht frei von Selbstbezogenheit. Anders als ihre Mutter aber sucht sie nicht nur sich selbst in den Gemälden, sondern schafft es gerade durch diese, sich für einen Moment zu vergessen.
Geschichten und Bilder
In einem Interview mit Nathan Scott McNamara erklärt Gainza, wie sie auf die Idee kam, ihr Buch zu schreiben:
She walks me over to the bookshelf to show me the greatest influence on Optic Nerve: The Story of Art by E. H. Gombrich, “That book for me was key,” Gainza says, holding the 670-page text adoringly in her hands. “It didn’t say the history of art. It said the story. Everything is a story. I used to read the way people were writing about art here—they were talking like lawyers. Mira,” she opens the cover page and shows me the handwritten date: London 1996. “This was a turning point for me. When I got back from London, I said, ‘I want to write about art.’ Something about the way he wrote was so easy, so readable. The way he doubled his voice or divided it and created a persona.”
https://lithub.com/an-afternoon-at-maria-gainzas-buenos-aires-home/
Der Roman besteht aus insgesamt 11 Episoden. In ihnen verbinden sich Reflexionen über ein Bild und seinen Maler mit Versatzstücken aus dem Leben der Erzählerin sowie ihrer Familie und Bekannten: Bilder als Ausgangspunkt von Assoziationsketten. So ergibt sich aus dem Buch eine schöne Mischung aus tagebuchähnlichen Einträgen, Kunstkritik und Künstlervignetten. Mir hat besonders gut gefallen, wie gut sie beobachten kann und wie genau und witzig sie diese Beobachtungen sprachlich umsetzt. Wenn ich manches Mal anfing zu überlegen, jetzt wirkt sie aber doch etwas unterkühlt, überrascht sie durch eine originelle Idee oder Beobachtung, die berührt. Gut gefallen hat mir auch, dass sie sich hauptsächlich auf Bilder bezieht, die in Museen in Buenos Aires besichtigt werden können. Dank der Verflechtungen von Bild, Künstlerbiografie und Erzählerleben werden die erwähnten Kunstwerke auch ohne Abbildung sehr gut vorstellbar.
Für diejenigen, die die besprochenen Bilder auch visuell geniessen wollen, hat María Gracia Chiaradia eine Diashow zusammengestellt, die alle vorgestellten Werke des Romans enthält:
Rezeption des Buches
Das Buch ist von der Kritik euphorisch aufgenommen worden (hier, hier, hier und vor allem Cees Noteboom). Der Roman, zunächst 2014 in einem kleinen argentinischen Verlag erschienen, ist inzwischen in 10 Sprachen übersetzt worden. Wie gut die deutsche Übersetzung von Peter Kultzen gelungen ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich habe die spanische Ausgabe von 2017 gelesen. Der Roman steckt voller visueller und sprachlicher Anregungen. Die Erzählerfigur María gibt dem Ganzen sehr viel Kohärenz, auch wenn die Episoden wenig berechenbar werden. Der positiven Kritik schliesse ich mich also gerne an.