Das diesjährige Filmfestival von Locarno hat dem klassischen mexikanischen Kino eine unterhaltsame und künstlerisch wertvolle Retrospektive gewidmet.
Filmland Mexiko
Mexiko gilt heute als eines der bedeutensten und produktivsten Kinoländer der Welt. Guillermo del Toro, Alejandro González Iñárritu, Alfonso Cuarón und Natalia Beristain gehören zu den bekannteren Namen der internationalen Kinowelt. Doch die Relevanz des mexikanischen Kinos beschränkt sich nicht nur auf die Gegenwart. Das Filmfestival von Locarno hat dem klassischen mexikanischen Kino der 1940er bis 1960er Jahre seine diesjährige Retrospektive gewidmet. Kuratiert wurde die Retrospektive von Programmgestalter und Filmkritiker Olaf Möller, dem Kritiker Roberto Turigliatto und dem Direktor der Filmbibliothek der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM), Hugo Villa. Ihren Titel «Espectáculo a diario» (Alltägliches Spektakel) trägt der Tatsache Rechnung, dass das Kino in jenen Jahrzehnten zur alltäglichen Unterhaltung weiter (städtischer) Bevölkerungskreise zählte. Eine Übersicht über alle Filme findet sich im Programm des Filmfestivals. Die Retrospektive bestand aus insgesamt 30 Filmen aus den Jahren 1940 bis 1969. Die Retrospektive zeigt deutlich, dass das mexikanische Kino jener Epoche nicht auf die heute noch bekannten Namen Cantinflas und María Félix reduziert werden sollte.
Meine Filmauswahl
Leider habe ich nur einen Bruchteil der angebotenen Filme sehen können, denn ich war nur vom 09. bis zum 12.08. vor Ort in Locarno. Neben der mexikanischen Retrospektive wollte ich schliesslich auch noch einige neue Filme sehen. Hier sind meine ausgewählten Filme:
La música de siempre (1956) war einer der ersten Farbfilme, die in Mexiko gedreht wurden. Die Handlung ist recht belanglos. Es geht darum, eine Rahmenhandlung zu finden, die es einer Filmcrew erlaubt, musikalische Szenen, die zunächst nichts miteinander zu tun haben, sinnstiftend aneinanderzureihen. Das ist sehr lustig und kurzweilig gestaltet, hatte aber einen ernsthaften sozialen Hintergrund. Bei dem Film handelt es sich sozusagen um eine Arbeitsbeschaffungsmassnahme für Künstler und Künstlerinnen, da der damalige Gouverneur von Mexiko-Stadt sehr hart gegen die Unterhaltungsbranche vorging. Regie führte der Chilene Tito Davison. Ich habe mich köstlich amüsiert.
El caso de la mujer asesinadita (1955) ist ebenfalls ein höchst unterhaltsamer und vergnüglicher Film, bei dem erneut Tito Davison Regie führte. Eine reiche Frau lebt ein langweiliges Leben in ihrem prächtigen Haus. Da sie sich langweilt, liest sie viel. Diese Lektüren führen zu wilden Träumen und Vorahnungen über ihre eigene Ermordung. Der Film basiert auf dem Theaterstück von Miguel Mihura und Alvaro Laiglesia, wodurch er wie eine Art Kammerspiel wirkt.

El corazon y la espada (1953) ähnelt vielen anderen Mantel-und-Degen-Filmen, die im Mittelalter angesiedelt sind. Das Besondere daran ist jedoch, dass es der erste mexikanische Film war, der in 3D gedreht wurde. Die Degen reichen förmlich in den Publikumsraum hinein. Die einfache Filmkulisse, die die Innenräume der Alhambra darstellen soll, erreicht so einen eindrucksvollen räumlichen Effekt. Der Plot ist ebenfalls schnell erzählt. Ein spanischer Edelmann möchte sich am Kalifen von Granada für den Tod seiner Eltern rächen. Ihn begleiten Ponce de León auf der Suche nach der Rose von Granada, die ewige Jugend verspricht, und Lolita, die das alchimistische Rezept für Gold in Granada sucht. Der Film nimmt es mit den historischen Fakten nicht allzu genau. Auch die Darstellungen der unterschiedlichen Kulturen dienen eher der dekonstruktivistischen Auseinandersetzung mit historisch geläufigen Stereotypen als der historischen Wahrheitsfindung. Regie führten Edward Dein und Carlos Véjar Jr.
Die Rolle der Lolita wird übrigens von Katy Jurado gespielt, der ersten lateinamerikanischen Schauspielerin, die einen Golden Globe Award für ihre Nebenrolle im Filmklassiker High Noon erhielt.

Einordnung der Retrospektive
Leider hat die Zeit nicht für mehr Filme gereicht. Die beiden folgenden Links beinhalten eine umfassendere Bewertung der Retrospektive: einmal aus mexikanischer Perspektive, einmal aus Schweizer Sicht. Auf der Filmplattform MUBI sind einige der in Locarno vorgestellten Filme kostenlos zu sehen. Sicherlich wird man auch auf YouTube teilweise fündig. Unbedingt nachschauen möchte ich den Film La mujer murciélago und einen der zahlreichen Horrorfilme. Obwohl Horror sonst nicht zu meinen Genres gehört, erwarte ich mir vom mexikanischen Kino einen künstlerisch lustvollen Umgang mit dem Tod und seinen vermeintlichen Schrecken.
Ich war jedenfalls begeistert über die originelle und selbstbewusste Art und Weise, wie in Mexiko Filmtraditionen etwa aus den USA übernommen, emuliert bzw. auch ganz neu geschaffen wurden. Bemerkenswert ist auch – darauf wies auch Kurator Olaf Möller in einer seiner kurzen Einführungen zu den Filmen hin – wie international das mexikanische Kino in jenen Jahren bereits aufgestellt war.
Die heutigen Filmschaffenden Mexikos haben mit dem klassischen mexikanischen Kino grossartgie Vorbilder erhalten, die sie auch heute noch wertschätzen. Dies zeigt sich z.B. darin, dass der Film El suavecito dank der Zusammenarbeit mit Guillermo Del Toro restauriert werden konnte. Dank der Retrospektive «Espectáculo a diario» hat endlich auch eine grösseres Kinopublikum wieder Gelegenheit erhalten, diese Filme neu zu entdecken.
