Tobias Lamberts Buch Gescheiterte Utopie. Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez analysiert den Niedergang der venezolanischen Spielart des demokratischen Sozialismus und dessen Transformation in ein autoritäres Regime. Wer am 10. Januar 2025 gut informiert sein möchte – das ist der Tag, an dem sich der jetzige Präsident Nicolás Maduro gegen grosse Widerstände erneut vereidigen lassen will – sollte dieses Buch gelesen haben.
Worum geht es in dem Buch?
- Das von Hugo Chávez initiierte Projekt einer demokratischen und antikapitalistischen Transformation Venezuelas („bolivarische Revolution“) ist gescheitert.
- Die Regierung unter Nicolás Maduro hat sich zunehmend autoritär entwickelt, was sich in Wahlmanipulationen und Repression der bürgerlichen Opposition zeigt. Es gibt zudem keine nennenswerte Opposition aus linker Perspektive.
- Die anhaltende wirtschaftliche Krise des Landes wird auf mehrere Faktoren zurückgeführt:
- Extraktivismus
- Misswirtschaft und Korruption in staatlichen Betrieben
- Vernachlässigung von Investitionen und technologischer Modernisierung
- Die enge Verflechtung von Militär und Regierung ist ein Garant für den Machterhalt auch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit.
- Zunächst kann Chávez weite Teile der ärmeren Bevölkerung für sich gewinnen.
- Lambert kritisiert die zunehmende Zentralisierung der Politik unter Chávez und später dann unter Maduro deutlich, die im Gegensatz zu den basisdemokratischen und partizipativen Initiativen der Anfangszeit des chavismo stehen.
- Gleichzeitig zeigt der Autor transparent auf, dass die Strukturen für Bürgerbeteiligung oft lediglich zur politischen Mobilisierung genutzt wurden, anstatt echte partizipative Wirtschaft zu fördern.

Lambert analysiert ausserdem in einem einführenden Kapitel ausführlich die Vorbedingungen der venezolanischen Politik, die den Erfolg von Hugo Chávez erst möglich gemacht haben. Dieser Erfolg resultierte aus der Unzufriedenheit mit einer de-facto Zweiparteienherrschaft, die nicht in der Lage war, die hohe Exposure des Landes vom Erdölexport zukunftsfähig abzumildern. So schreibt Lambert über die Wirtschaftspolitik Venezuelas seit 1936:
1936 formulierte der venezolanische Schriftsteller Arturo Uslar Peitri in einem Zeitschriftenartikel den Anspruch „das Erdöl zu säen“ („sembrar el petróleo“). Damit bezog er sich ursprünglich darauf, mithilfe der Petrodollar den Agrarsektor zu entwickeln. Als Slogan sollte fortan praktisch jede venezolanische Regierung das Ziel verfolgen, die Wirtschaft mithilfe der Eröleinnahmen zu diversifizieren. (S. 13)
Bewertung
Das Buch ist faktenreich geschrieben und gut dokumentiert. Es ist auch sehr aktuell, da es sogar die umstrittenen Wahlen von 2024 mit beinhaltet, deren Ergebnis weiterhin ungewiss ist, so dass derzeit zwei Kandidaten die Präsidentschaft Venezuelas beanspruchen: Nicolás Maduro sowie der Oppositionsführer Edmundo González, dem die Verhaftung droht, sollte er am 10. Januar venezolanischen Boden betreten wollen. Lambert verhehlt nicht die ursprünglichen Sympathien für die politischen und sozialen Reformen, die zunächst geplant waren, zeigt aber auch schonungslos auf, was unter Chávez und Maduro politisch und wirtschaftlich schief gelaufen ist.
Ich habe drei kleinere Kritikpunkte am Buch: 1. Der Text ist sehr informationsreich und erfordert eine hohe Konzentration bei der Lektüre. Ich hätte mir neben dem hilfreichen Glossar daher zusätzliche Visualisierungen gewünscht, vor allem für die zahlreichen statistischen Angaben sowie für Namen, Ereignisse, Parteien und Bewegungen, damit ich mich als Leserin besser orientieren kann. 2. Ich hätte mir eine kurze Analyse der venezolanischen Opposition im Ausland gewünscht, denn bis Ende 2023 haben 7.7 Millionen Menschen ihre Heimat Venezuela verlassen. Gibt es einen stärkeren Beleg für das Scheitern der Utopie? 3. Ich hätte mir zudem eine kritische Auseinandersetzung mit der Begeisterung von Teilen der europäischen Linken mit dem chavismo gewünscht (insbesondere auch die finanziellen Verstrickungen), aber das wäre vielleicht ein anderes Buch. Lambert geht es hier aber eindeutig um die venezolanische Binnenperspektive. Die schätzt der Autor derzeit als wenig optimistisch ein (S. 224).
Der desencanto der deutschen Linken mit Venezuela ist allein schon daran abzulesen, dass es seit dem Tod Chávez‘ – gemäss Lamberts Recherche – keine nennenswerten deutschsprachigen Publikationen mehr gab. Von daher ist ein Buch, wie das Lamberts, überfällig. Wer also zum Thema Venezuela mitreden möchte, ob aus journalistischer oder wissenschaftlicher Perspektive, kommt an Tobias Lambert nicht vorbei.
