Diese Insel ist ein Himmelfahrtskommando

„Ach, meine Liebe… das Leben ist Delirium. Ach, meine Liebe… diese Insel ist Selbstmord. Ach, meine Liebe…“1, so besingt Jorgito Kamankola seine Heimat Kuba. Für diesen Refrain hat sich der Musiker von Mario Conde inspirieren lassen, dem Protagonisten der Havanna-Romane Leonardo Paduras. Ich habe den letzten Mario-Condo-Roman, Personas decentes, in der deutschen Übersetzung von Peter Kultzen gelesen. Die Übersetzung trägt den Titel Anständige Leute und ist 2024 im Unionsverlag Zürich erschienen.

Mehrere Handlungsstränge

Padura wiederum lässt sich auch von Kamankola inspirieren und übernimmt den Refrain als Epigraph für seinen Roman. Welchen Herausforderungen muss sich seine Hauptfigur Mario Conde, der zwar schon seit langem nicht mehr Polizist ist, aber immer wieder seine alten Kollegen unterstützt, dieses Mal stellen? Worin genau besteht das Delirium, dass im Epigraph angesprochen wird? Wie immer entwirft Padura seine Handlung nicht linear, sondern verschränkt sie mit historischen Überlegungen und weiteren Geschichten.

Die erste Handlungsebene spielt im Havanna des Jahres 2016. Das ist das letzte Mal, in dem in Kuba wieder einmal die Hoffnung auf politische Erneuerung aufkam: Obama kommt zu Besuch. Die Rolling Stones geben ein Konzert. In diesem Kontext macht sich Mario Conde auf die Suche nach dem Mörder, der Reynaldo Quevedo, ein ehemaliges Mitglied des kubanischen Repressionsapparats, auf brutale Weise umgebracht hat.

Dieser bereicherte sich in den Jahren des sogenannten «Quinquenio gris» zu Beginn der Siebziger Jahre in der Form, dass er die Werke von Künstlern und Künsterinnen, die unter seiner Zensur und seinen Repressalien litten, an sich nahm und diese später für viel Geld weiterverkaufte. Dabei profitierte Quevedo von den Mittlerdiensten seines Schwiegersohns. Das «Quinquenio gris», die grauen Jahre, waren allgemein geprägt von kultureller Zensur. Künstler und Intellektuelle, vor allem solche der LGBT-Gemeinschaft, wurden schikaniert. Conde und die Polizei vermuten deshalb, dass es sich bei dem Mord um einen Racheakt handeln könnte. Diese zweite Ebene stellt im engeren Sinne keine eigene Handlungsebene dar, sondern wird über Erzählungen, Reflexionen und historische Hypothesenbildung eingeblendet.

Bei der dritten Handlungsebene springt Padura zurück in die Gründungsjahre Kubas, indem er seinen Helden Mario Conde eine Erzählung schreiben lässt. Der Ex-Polizist, Buchhändler und Türsteher im «Dulce vida» träumt nämlich davon, Schriftsteller zu werden. In seiner Geschichte geht es um den Aufstieg und die Ermordung des reichen Zuhälters Alberto Yarini, die aus der Perspektive des Polizisten Arturo Saborit erzählt wird. Diese zweite Erzählung aus dem Rotlichtmilieu Havannas der Jahre 1910/11 wechselt sich mit der Haupterzählung von 2016 ab.

Wir erhalten also gleich zwei Kriminalfälle in einem Buch und dazu ganz viel Geschichte geliefert, Napoleon Bonaparte inklusive.

Interpretation

In allen Handlungssträngen geht es um die Konstanten des Lebens auf Kuba. Unabhängig vom politischen System stehen Menschen in jeder historischen Epoche vor der Herausforderung, sich moralisch zu behaupten, also anständig zu bleiben. Ich möchte gerne einige zentrale Aspekte des Romans aufgreifen:

Der Roman nutzt das Genre des Kriminalromans, um eine tiefgreifende Kritik am kubanischen Machtsystem zu üben. Das kennen wir von Padura, ist aber sehr viel direkter und unverblümter als in früheren Büchern. Durch die Ermittlungen Mario Condes werden die Schattenseiten des Lebens auf Kuba beleuchtet – von Korruption über Machtmissbrauch bis hin zum moralischen Verfall. Der neue Mensch des Sozialismus ist wie der alte. Der Titel kann nur ironisch verstanden werden, da auch die vermeintlich „Anständigen“ zu Kriminellen werden können – aber ich möchte nicht zu viel verraten.

Durch die verschiedenen historischen Epochen, die im Roman eine Rolle spielen, gelingt es Padura auch, die sozialen Veränderungen in Kuba aufzuzeigen: von den Gründerjahren über die Repressalien des kubanischen Regimes bis hin zum tristen Alltag der Aktualität, der immer mehr Kubaner und Kubanerinnen den Rücken kehren wollen. Der Kontrast zwischen den Idealen der Revolution und der heutigen sozialen Realität wird auf jeder Seite des Romans deutlich. Die soziale Ungleichheit ist seit der Revolution unverändert gross geblieben – auch im Vergleich zu den mafiösen Gründerjahren, als sich Macht durch Gewalt definierte.

Zentral im Roman sind moralische Ambiguität und persönliche Integrität. Wie kann man in einem korrupten System – einem ungezügelten, mafiösen Kapitalismus auf der einen Seite, dem repressiven Sozialismus auf der anderen Seite – als Mensch anständig bleiben? Die Grenzen zwischen Gut und Böse können verschwimmen, wobei Mario Conde – auch selbst nicht ganz fehlerfrei – doch meist einen klaren Blick auf die Verwerfungen des Systems zu bewahren scheint. Dies gelingt ihm auf den ersten Blick vor allem deshalb, da er als Aussteiger aus dem System eine beobachtende Position einnehmen kann. Gerade die zweite Erzählung, von ihm geschrieben und möglicherweise mit autofiktionalen Einsprengseln, lässt aber lange offen, ob Mario Conde seine Integrität auf Dauer wahren kann. Das sorgt für Spannung bis zum Schluss.

Wertung

Obwohl mir der Einstieg nicht leicht fiel – zahlreiche Erläuterungen fand ich weitschweifig, Sätze waren zu lang und wirkten behäbig, das Namedropping zahlreicher Figuren aus dem Mario-Conde-Universum und eine zunächst lose wirkende Nebenhandlung nervten – entwickelt sich das Buch zum Positiven.
Kritisch sehe ich die explizite Darstellung von Gewalt, Sexualpraktiken und sexuellen Abhängigkeitsverhältnissen, die mir teilweise unangebracht erschienen. Vielleicht bin ich einfach zu prüde und es ist so, dass Padura die explizite Darstellung bewusst nutzt, um die Widersprüche und Grauzonen aufzuzeigen, in denen sich Moral und Sexualität oft bewegen. Auch der Eindruck, dass Frauen vor allem über Prostitution aus der Armut finden, wirkte auf mich arg klischeehaft. Als ob Frauen sich in ihre Freier verlieben würden – dieser Mythos hält sich hartnäckig in schreibenden Männerköpfen.

Insgesamt ist Anständige Leute ein politisch ambitionierter Roman, der zwar nicht immer literarisch überzeugt, aber durch seine Vielschichtigkeit und historische Tiefe einen perspektivenreichen Blick auf Kubas Gesellschaft bietet.

Ein Dank geht an den Unions-Verlag, der mir das Rezensionsexemplar kostenlos zur Verfügung stellt. Wenn Ihr meine Arbeit unterstützen möchtet, könnt Ihr dies gerne über eine einmalige oder regelmässige Spende tun. Vielen Dank! Jede Spende sichert meine finanzielle Unabhängigkeit.

1 So übersetzt Peter Kultzen den Refrain des Lieds «La Isla del delirio» (Spanisches Original: «Ay amor… la vida es un delirio. Ay amor… esta isla es un suicidio. Ay amor…») Ich hätte «suicidio» eher metaphorisch-untertreibend mit «Himmelfahrtskommando» übersetzt, aber es gibt wohl einen konkreten Vorfall, auf den sich die Aussage bezieht.

Ist Quevedos populärer Schelmenroman bereits 1625 erschienen?

Dieses Jahr stelle ich in meinem Newsletter auf Substack berühmte Bücher in spanischer Sprache vor, die 2025 einen runden Geburtstag feiern.

Diese Woche ist Quevedo Schelmenroman La vida del Buscón llamado Don Pablos, ejemplo de vagamundos y espejo de tacaños, kurz El Buscón genannt, an der Reihe. Das ist etwas verwegen, denn offiziell datiert die erste bekannte Ausgabe des Romans, der das Leben des jungen Pablos aus Segovia nachzeichnet, bekanntlich aus dem Jahr 1626. Sie erschien in Zaragoza. Wir müssten also noch ein Jahr warten, bis wir den Roman feiern könnten.

Nun ist es aber so, dass die Philologin María José Alonso Veloso anhand eines Briefes aus den Beständen der Real Academia de la Historia (RAH) die These aufstellt, dass der Roman bereits 1625 publiziert wurde. Ihre Argumente findet Ihr in meinem Newsletter.

Unabhängig vom Jahrestag lädt der Roman inhaltlich wie auch stilistisch jederzeit zur Lektüre ein. Das Buch gilt als einer der Höhepunkte des Schelmenromans, als ein herausragendes literarisches Zeugnis des Siglo de Oro und überzeugt durch seine ausgeprägte Sozialsatire und schwarzen Humor. Das passt auch heute noch gut…