Der Vergleich in der Überschrift mag anmassend klingen, denn Marco Polo ist mit seinen Reisen weltberühmt geworden. Die Reisen Benjamin von Tudelas (hebräischer Name: Biniamin ben rabbí Yonah mi-Tudela) führten denn auch tatsächlich nicht ganz so weit in den Osten, doch sie geben ein gutes Zeugnis über die Eindrücke eines jüdischen Reisenden in die Region, die wir heute als Nahen Osten bezeichnen. Immerhin gilt er als der erste Europäer der Neuzeit, der China mit dem heutigen Namen erwähnt. Anders als Marco Polo ist Benjamin von Tudela bis heute weitgehend unbekannt. Auch ich traf heute erstmals in einem Artikel der La Vanguardia auf die Reiseberichte des Rabbinersohns aus dem navarrischen Städtchen Tudela.

Die Reisen
Er notierte genau, was er auf seinen Reisen zwischen 1160 und 1173 beobachtete (eine andere Quelle behauptet auch ab 1158). Seine Notizen, die von einem unbekannten Autoren im Libro de viajes (Masa’ot Binyamin) zusammengestellt worden sind, machen ihn bis heute zu einem bedeutenden Geographen und Darsteller der jüdischen Geschichte des Mittelalters. Seine genaue Route ist nicht bekannt, aber sie kann wie folgt rekonstruiert werden:

Besonders angetan war er vom damaligen Konstantinopel:
„An diesem Ort“, fährt er fort, „zeigen sich vor dem König und der Königin alle Arten von Menschen auf der Welt, wie durch Zauberei; und sie bringen Löwen, Panther, Bären und Zebras dazu, gegeneinander zu kämpfen; sie tun dasselbe mit Vögeln, und so ein Spektakel sieht man in keinem anderen Land.“
übersetzt aus dem Spanischen, https://www.lavanguardia.com/historiayvida/edad-media/20200630/482013608705/benjamin-tudela-marco-polo-judio-libro-viajes-constantinopla-bagdad.html
Auch von Bagdad und der Person des Kalifen ist er sehr begeistert. Mit grossem Detail schildert er das Leben der jüdischen Gemeinschaften und hält seine Eindrücke vom städtischen Leben insgesamt in seinen Notizen fest. So schreibt er genau auf, wie die jüdische Gemeinde lebt, wer sie anführt und wie ihre Lage jeweils ist – ob sie marginalisiert sind und unterdrückt werden oder ob sie sich mit den Machthabern arrangiert haben. Bis heute spekulieren Historiker und Philologen über die Motive seiner Reise. Eine häufig geäusserte Hypothese ist die, dass er als Händler neue Märkte suchte. Da er sich einige Male interessiert über Korallen äussert, vermutet man, dass er möglicherweise mit Schmuck handelte.
Das Buch
Wenn ich die Quellenlage richtig deute, ist die Originalausgabe 1543 in hebräischer Sprache in Konstantinopel erschienen, also 50 Jahre nach der Vertreibung der Juden aus Spanien. Es ist wenig erstaunlich, welch lange Reise die Notizen machen mussten, um endlich veröffentlicht zu werden. Sie zeichnet das Schicksal vieler sefardischer Juden nach, die nach 1492 gen Osten ziehen mussten. Es scheint fast so, dass die erste spanische Übersetzung erst 1918 herausgegeben wurde. Sie ist als pdf erhältlich. 1994 hat die Regierung Navarras auch eine dreisprachige Ausgabe in Spanisch, Baskisch und Hebräisch herausgegeben.
Wer das Buch lieber auf Englisch lesen möchte, findet eine Übersetzung auf dem Projekt Gutenberg: http://www.gutenberg.org/files/14981/14981-h/14981-h.htm
Eine deutsche Übersetzung ist leider nur antiquarisch erhältlich: https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/juedische-reisen-im-mittelalter/autor/tudela/
Moin!
Sehr interessant!
Bist Du bei Deinen Recherchen auch darauf gestoßen, was genau Benjamin von Tudela über China geschrieben hat? Ich komme da nicht wirklich weiter, weil das Gutenberg Project im Internet für Deutschland gesperrt ist. Spanisch kann ich leider nicht.
Mein Interesse liegt in der Geschichte der Seidenstrasse und der Juden in China.
Ich habe verstanden, dass B. wahrscheinlich nicht selbst in China war. Trotzdem würde mich sehr interessieren, was er über China schreibt.
Beste Grüße
Ulrike
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Hallo Ulrike,
mir war nicht bewusst, dass das Project Gutenberg in Deutschland gesperrt ist. Schade. Benjamin von Tudelas Aussagen über China sind sehr vage. In seinem Buch ist nicht dokumentiert, ob er selber je in China war. Er muss aber in jedem Fall mit anderen Seefahrern über die gefährliche Fahrt ins Chinesische Meer gesprochen haben.
Hier ist der relevante Ausschnitt aus der englischen Übersetzung: „Thence to cross over to the land of Zin (China) is a voyage of forty days. Zin is in the uttermost East, and some say that there is the Sea of Nikpa (Ning-po?), where the star Orion predominates and stormy winds prevail[174]. At times the helmsman cannot govern his ship, as a fierce wind drives her into this Sea of Nikpa, where she cannot move from her place; and the crew have to remain where they are till their stores of food are exhausted and then they die. In this way many a ship has been lost, but men eventually discovered a device by which to escape from this evil place. The crew provide themselves with hides of oxen. And when this evil wind blows which drives them into the Sea of Nikpa, they wrap themselves up in the skins, which they make waterproof, and, armed with knives, plunge into the sea. A great bird called the griffin spies them out, and in the belief that the sailor is an animal, the griffin seizes hold of him, brings him to dry land, and puts him down on a mountain or in a hollow in order to devour him. The man then quickly thrusts at the bird with a knife and slays him. Then the man issues forth from the skin and walks till he comes to an inhabited place. And in this manner many a man escapes.“ (Benjamin de Tudela, The Itinerary of Benjamin of Tudela, kritische Edition von Marcus Nathan Adler, New York: Philip Feldheim, The HOuse of the Jewish Book, 1907, S. 95)
Hilft Dir das weiter? Viele Grüsse!
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Liebe Barbara,
danke für die schnelle Antwort!
Das ist in der Tat sehr vage. Es deutet nichts drauf hin, dass er wirklich da gewesen ist. Trotzdem finde ich das sehr interessant.
Beste Grüße
Ulrike
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Liebe Ulrike,
gerade habe ich gelesen, dass es im März einen virtuellen Kurs über jüdisches Leben in China gibt. Dabei habe ich an Deinen Post vom letzten September gedacht. Das ist doch dein Thema. Vielleicht findest Du via Kurs und den Teilnehmenden ein paar interessante Anregungen: https://esefarad.com/?p=101588&utm_source=sendinblue&utm_campaign=619_Boletin_Semanal_eSefarad_29012021&utm_medium=email
Die Dozentin kündigt den Kurs folgendermassen an: „Jews have been traveling back and forth across Asia, and forming communities in China, since biblical times. The three main settlements were in Kaifeng, Harbin and Shanghai. Who were these Jews? And what were their motivations for traveling so far? Some have been called “lost Jews” because, for several centuries, nobody knew they were there, at least those in Kaifeng. We will look at each one to try to understand their unique backgrounds, experiences, and incentives.“
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Ganz lieben Dank für den interessanten Hinweis!
Das gucke ich gerne genauer an!
Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende!
Liebe Grüße
Ulrike
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Danke! Das hört sich spannend an! Ich habe mir das auf alle Fälle vorgemerkt.
Beste Grüße
Ulrike
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