Vorhang zu für die Arbeit!

Am 28.02.2025 bin ich in Pension gegangen. So kann ich mich nun den Themen widmen, die mir richtig wichtig sind, freiberuflich. Auf Tertulia bleibe ich deshalb aktiv und habe schon viele Ideen!

Dieser Moment ist zugleich ein Einschnitt, der mir die Gelegenheit bietet, auf mein bisheriges Berufsleben zurückzublicken. So wie Prominente dies wöchentlich in der ZEIT-Kolumne «Was ich gerne früher gewusst hätte» machen, habe ich deshalb in Listenform notiert, was ich erst spät begriffen habe.

  • Die Revolution frisst ihre Kinder. Auch die technologische. Ach, Elon…
  • Pathos kommt gut. Junge Leute gehen erstaunlich unbefangen mit grossen Gefühlen um. Professionell agieren heisst eben nicht, Gefühle bei der Arbeit einfach auszublenden (so wie es in meiner Generation noch üblich war/ist).
  • Chrampfe darf nichts mit Freude zu tun haben. Ein Beispiel: «Du bist immer so gut gelaunt und lachst viel. Deine Mitarbeiter könnten glauben, Du nimmst die Arbeit nicht ernst.» (Einer meiner ex-Chefs)
  • Wer sich an die goldene Regel hält, dass Zuhören wichtiger als Reden ist, macht Fachkarriere.
  • Frauen machen nicht unbedingt Karriere, wenn sie ihre Projekte zuverlässig und erfolgreich abschliessen. Männer hingegen machen gerade dann Karriere, wenn sie Projekte (kontrolliert) an die Wand fahren, sie anschließend retten – und dafür als Helden gefeiert werden. Da ist es schon wieder, das Performative der Arbeit.
  • Wenn Du dich wieder einmal über die dummen Witze der Clowns ärgerst, hadere nicht mit den Clowns. Frage Dich, weshalb Du immer noch in den Zirkus gehst (Gefunden auf einem Corporate Blog. Der Spruch könnte aber auch in der Büroküche hängen.)
  • Ein Programmier-Gen? Ja, das muss es geben – und mir fehlt es. Leider.
  • Wenn Männer den Kinderarzt-Termin übernehmen, lassen sie gerne ihr Jacket am Bürostuhl hängen. Dann denken alle, sie seien in einem Meeting.
  • Nicht die Zahl neurodiverser Menschen hat so stark zugenommen – vielmehr ist unser Verständnis von dem, was die Norm darstellt, enger, starrer und ausgrenzender geworden. 
  • «We meet wonderful people but lose them in our busyness.» (Dogs Songs, Mary Oliver)
  • Das Härteste an der Arbeit war für mich die Inszenierung derselben. Nun ist der Vorhang gefallen.

Diese Erkenntnisse sind nicht allein auf meinem Mist gewachsen, sondern verdanke ich Freunden, Kolleginnen und all jenen, die – ähnlich wie ich – über Kultur und Kommunikation in der Arbeitswelt nachgedacht haben. Die Liste spiegelt die Stationen meines Arbeitslebens wider: Bank, IT-Projektgeschäft, Beraterin, Kommunikationsdozentin an einer Hochschule.

Je länger ich über manches, was ich spät begriffen habe, nachdenke, desto mehr reizt es mich , dem weiter nachzugehen. Welches Thema davon soll ich als Erstes vertiefen? Gebt mir Feedback in den Kommentaren. Ich habe jetzt Zeit 😉.

Wo bleibt die Schule der Aufgeschlossenheit?

«Ihr wollt Euch nur selbst hören.» (zitiert nach Pörksen, 2025, S. 271)

Mit diesem Ausruf einer Fotografin anlässlich der unversöhnlichen Debatte bei einem Lesemarathon von Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in Hamburg ist das Problem, dem sich Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch annimmt, sehr gut auf den Punkt gebracht. Wie schaffen wir es wieder, dass wir uns in gesellschaftlichen Diskursen gegenseitig zuhören können? Wann und unter welchen Bedingungen entsteht eine «kollektive Zuhörbereitschaft» (S. 24)? Ich habe Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen, für Euch gelesen.

Zuhören auf Reisen

Um Wege zu finden, die aus der Welt der kommunikativen Polarisierung, Ich-Vermarktung und dem Heischen nach Aufmerksamkeit herausführen, geht Bernhard Pörksen auf Reisen. Unterwegs spricht er mit Menschen, von denen er sich Lösungen für die grossen gesellschaftlichen Herausforderungen in Sachen Kommunikation verspricht. So trifft er sich immer wieder mit einem Jungunternehmer aus der Ukraine und diskutiert mit ihm darüber ist, wie man als angegriffenes Land in einer lauten Welt voller Katastrophenmeldungen und verbohrter Meinungen gehört werden kann. Dieses Interview hat nicht nur eine politische Seite, sondern auch eine menschliche. Über die Invasion der Ukraine zerbricht auch das Verhältnis Misha Katsurins mit seinem Vater, der in Russland lebt und die Erzählung des Kremls übernimmt. Er trifft ausserdem Stewart Brand, der im positiven Sinn den Mythos des Silicon Valley mitbegründet hat sowie den ehemaligen Gouverneur Kaliforniens Jerry Brown. Er schreibt über die Künstlerin Jenny Odell, den Internet-Ethiker Tristan Harris, den Klimajournalisten Andrew Revkin und spricht mit Luisa Neubauer in Hamburg. Doch er beginnt mit einer Reflexion, die ihm persönlich am Herzen liegt. Wie konnte es geschehen, dass in seinem eigenen progressiven pädagogischen Umfeld die Missbrauchs-Praxis an der Odenwald-Schule so lange vertuscht werden konnte? Wie konnte es sein, dass die Missbrauchten jahrelang kein Gehör fanden? Und wann wurden sie dann doch gehört? Auf diesen zentralen Fragen gründet Pörksen seine eigene Praxis des Zuhörens. Gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern und unter Rückgriff auf deren Umfeld analysiert er das allgegenwärtige kommunikative rabbit hole, in dem sich viele Menschen befinden, und überlegt in einem abschliessenden Kapitel, wie wir aus ebendiesem herauskommen könnten.

Bewertung

Angesichts des Titels könnte der Eindruck entstehen, es handle sich um einen Reader über Gesprächsführung, aber darum geht es ihm nicht. Es handelt sich nicht um ein Ratgeber-Buch, sondern einen Essayband. Als Medienwissenschaftler geht es ihm um konstruktive gesellschaftliche Diskursgestaltung. Alle sagen, was immer ihnen beliebt. Aber wer hört noch zu? Diese Analysen führt er stets konstruktiv und unterhaltsam aus; er wirkt nie belehrend wissend, sondern neugierig suchend und auch selbstkritisch. Das wirkt überzeugend, denn so erfahren wir, was es für ihn persönlich braucht, dass er zuhören kann. So kommt er zum Schluss:

Denn bevor man kritisiert, bevor man für andere Formen des pluralismusfreundlichen Sprechens und Schreibens plädiert und diese einübt, bevor man überhaupt zu einer einigermaßen begründbaren Reaktion gelangen kann, gilt es, sich dem anderen erst einmal zuzuwenden, fasziniert von seiner unvermeidlichen Fremdheit, voller Neugier und Vorfreude auf das, was sich zeigen und im Gespräch offenbaren könnte: Das ist der Weg des Zuhörens, das ist der Weg der Komplexitätssteigerung von Wahrnehmung durch die Konkretion und die Kontextbetrachtung, von dem dieses Buch handelte. (Pörksen, 275-276)

Am Ende verweist Pörksen die Verantwortung für den offenen gesellschaftlichen Diskurs also an das Individuum zurück, was mich als Schlussfolgerung ein wenig enttäuscht hat. Zwar stellt er bereits zu Beginn seiner Ausführungen methodisch fest, dass es nie nur um die individuelle Tiefengeschichte gehe, die den Grundstein für Zuhören lege, sondern um das Zusammenspiel dieser individuellen Erfahrungen mit kollektivpsychologischer Dynamik und medialen Rahmenbedingungen. Doch – so mein Gesamteindruck – lässt er das sowieso schon überforderte Individuum allein zurück in seinem kraftvoll formulierten Schlussappell, denn er lässt strukturelle Faktoren, die helfen könnten, das Individuum in seiner Offenheit zu bestärken oder diese Offenheit überhaupt erst wieder entstehen zu lassen, ungesagt. Es ist sicherlich so, dass jeder Mensch zunächst einmal sich selbst zuhören können muss, bevor er sich anderen gegenüber öffnen kann. Doch muss jeder das so ganz alleine schaffen? Braucht es dafür nicht eine systematische Schule der Offenheit bzw. Aufgeschlossenheit, die allen offen steht? Vielleicht liegt Pörksens Verweis auf die Verantwortung des Einzelnen für das Entstehen von Dialogräumen auch darin begründet, dass er sich von seinen Gesprächspartnern – ebenso wie er sind das ausserordentlich autark wirkende und mehr als selbstbewusste Persönlichkeiten – hat beeinflussen lassen. Ob diese ihm bei seinen Fragen immer zugehört haben?

Danke an den Hanser-Verlag, der mir für die Rezension ein kostenloses Buchexemplar zur Verfügung gestellt hat.
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