Monteagudos Vision einer Föderation spanischamerikanischer Staaten von 1825

Die Vision einer spanischamerikanischen Föderation, die Bernardo de Monteagudo 1825 in seinem Ensayo Sobre La Necesidad De Una Federacion Jeneral: Entre Los Estados Hispano-Americanas, Y Plan De Su Organizacion beschrieb, gilt als das erste politische Essay aus den jungen spanischamerikanischen Staaten.

Dieses Jahr greife ich in meinem Substack-Newsletter bestimmte philologische Jahrestage auf, die im Rausch der allgemeinen Presse und Trends gerne vergessen werden. So habe ich den Vertrag von Wien (1725) vorgestellt, das Buch Los besos en el pan von Almudena Grandes aus dem Jahr 2015 und auch das erste Kochbuch in spanischer Sprache aus dem Jahr 1525.

Für den aktuellen Beitrag in dieser Reihe habe ich einen Essay aus dem Jahr 1825 ausgewählt. Vor genau 200 Jahren schrieb der aus Argentinien stammende Politiker, Diplomat und Journalist Bernardo de Monteagudo über eine Thema, das heute nur noch in der Aussenbetrachtung Relevanz zu haben scheint. Kurz nach der Unabhängigkeit von der spanischen Krone entwarf er eine kühne Vision, wie eine Föderation spanischamerikanischer Staaten aussehen könne. Denn diese brauche es, so seine These, denn er fürchtete, dass Spanien unter Beistand der Heiligen Allianz die jungen Staaten zurückerobern wolle.

In meinem aktuellen Newsletter stelle ich Autor, Essay und seine heutige Relevanz genauer vor: https://tertulia.substack.com/p/the-vision-of-a-federation-of-spanish

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Diese Insel ist ein Himmelfahrtskommando

„Ach, meine Liebe… das Leben ist Delirium. Ach, meine Liebe… diese Insel ist Selbstmord. Ach, meine Liebe…“1, so besingt Jorgito Kamankola seine Heimat Kuba. Für diesen Refrain hat sich der Musiker von Mario Conde inspirieren lassen, dem Protagonisten der Havanna-Romane Leonardo Paduras. Ich habe den letzten Mario-Condo-Roman, Personas decentes, in der deutschen Übersetzung von Peter Kultzen gelesen. Die Übersetzung trägt den Titel Anständige Leute und ist 2024 im Unionsverlag Zürich erschienen.

Mehrere Handlungsstränge

Padura wiederum lässt sich auch von Kamankola inspirieren und übernimmt den Refrain als Epigraph für seinen Roman. Welchen Herausforderungen muss sich seine Hauptfigur Mario Conde, der zwar schon seit langem nicht mehr Polizist ist, aber immer wieder seine alten Kollegen unterstützt, dieses Mal stellen? Worin genau besteht das Delirium, dass im Epigraph angesprochen wird? Wie immer entwirft Padura seine Handlung nicht linear, sondern verschränkt sie mit historischen Überlegungen und weiteren Geschichten.

Die erste Handlungsebene spielt im Havanna des Jahres 2016. Das ist das letzte Mal, in dem in Kuba wieder einmal die Hoffnung auf politische Erneuerung aufkam: Obama kommt zu Besuch. Die Rolling Stones geben ein Konzert. In diesem Kontext macht sich Mario Conde auf die Suche nach dem Mörder, der Reynaldo Quevedo, ein ehemaliges Mitglied des kubanischen Repressionsapparats, auf brutale Weise umgebracht hat.

Dieser bereicherte sich in den Jahren des sogenannten «Quinquenio gris» zu Beginn der Siebziger Jahre in der Form, dass er die Werke von Künstlern und Künsterinnen, die unter seiner Zensur und seinen Repressalien litten, an sich nahm und diese später für viel Geld weiterverkaufte. Dabei profitierte Quevedo von den Mittlerdiensten seines Schwiegersohns. Das «Quinquenio gris», die grauen Jahre, waren allgemein geprägt von kultureller Zensur. Künstler und Intellektuelle, vor allem solche der LGBT-Gemeinschaft, wurden schikaniert. Conde und die Polizei vermuten deshalb, dass es sich bei dem Mord um einen Racheakt handeln könnte. Diese zweite Ebene stellt im engeren Sinne keine eigene Handlungsebene dar, sondern wird über Erzählungen, Reflexionen und historische Hypothesenbildung eingeblendet.

Bei der dritten Handlungsebene springt Padura zurück in die Gründungsjahre Kubas, indem er seinen Helden Mario Conde eine Erzählung schreiben lässt. Der Ex-Polizist, Buchhändler und Türsteher im «Dulce vida» träumt nämlich davon, Schriftsteller zu werden. In seiner Geschichte geht es um den Aufstieg und die Ermordung des reichen Zuhälters Alberto Yarini, die aus der Perspektive des Polizisten Arturo Saborit erzählt wird. Diese zweite Erzählung aus dem Rotlichtmilieu Havannas der Jahre 1910/11 wechselt sich mit der Haupterzählung von 2016 ab.

Wir erhalten also gleich zwei Kriminalfälle in einem Buch und dazu ganz viel Geschichte geliefert, Napoleon Bonaparte inklusive.

Interpretation

In allen Handlungssträngen geht es um die Konstanten des Lebens auf Kuba. Unabhängig vom politischen System stehen Menschen in jeder historischen Epoche vor der Herausforderung, sich moralisch zu behaupten, also anständig zu bleiben. Ich möchte gerne einige zentrale Aspekte des Romans aufgreifen:

Der Roman nutzt das Genre des Kriminalromans, um eine tiefgreifende Kritik am kubanischen Machtsystem zu üben. Das kennen wir von Padura, ist aber sehr viel direkter und unverblümter als in früheren Büchern. Durch die Ermittlungen Mario Condes werden die Schattenseiten des Lebens auf Kuba beleuchtet – von Korruption über Machtmissbrauch bis hin zum moralischen Verfall. Der neue Mensch des Sozialismus ist wie der alte. Der Titel kann nur ironisch verstanden werden, da auch die vermeintlich „Anständigen“ zu Kriminellen werden können – aber ich möchte nicht zu viel verraten.

Durch die verschiedenen historischen Epochen, die im Roman eine Rolle spielen, gelingt es Padura auch, die sozialen Veränderungen in Kuba aufzuzeigen: von den Gründerjahren über die Repressalien des kubanischen Regimes bis hin zum tristen Alltag der Aktualität, der immer mehr Kubaner und Kubanerinnen den Rücken kehren wollen. Der Kontrast zwischen den Idealen der Revolution und der heutigen sozialen Realität wird auf jeder Seite des Romans deutlich. Die soziale Ungleichheit ist seit der Revolution unverändert gross geblieben – auch im Vergleich zu den mafiösen Gründerjahren, als sich Macht durch Gewalt definierte.

Zentral im Roman sind moralische Ambiguität und persönliche Integrität. Wie kann man in einem korrupten System – einem ungezügelten, mafiösen Kapitalismus auf der einen Seite, dem repressiven Sozialismus auf der anderen Seite – als Mensch anständig bleiben? Die Grenzen zwischen Gut und Böse können verschwimmen, wobei Mario Conde – auch selbst nicht ganz fehlerfrei – doch meist einen klaren Blick auf die Verwerfungen des Systems zu bewahren scheint. Dies gelingt ihm auf den ersten Blick vor allem deshalb, da er als Aussteiger aus dem System eine beobachtende Position einnehmen kann. Gerade die zweite Erzählung, von ihm geschrieben und möglicherweise mit autofiktionalen Einsprengseln, lässt aber lange offen, ob Mario Conde seine Integrität auf Dauer wahren kann. Das sorgt für Spannung bis zum Schluss.

Wertung

Obwohl mir der Einstieg nicht leicht fiel – zahlreiche Erläuterungen fand ich weitschweifig, Sätze waren zu lang und wirkten behäbig, das Namedropping zahlreicher Figuren aus dem Mario-Conde-Universum und eine zunächst lose wirkende Nebenhandlung nervten – entwickelt sich das Buch zum Positiven.
Kritisch sehe ich die explizite Darstellung von Gewalt, Sexualpraktiken und sexuellen Abhängigkeitsverhältnissen, die mir teilweise unangebracht erschienen. Vielleicht bin ich einfach zu prüde und es ist so, dass Padura die explizite Darstellung bewusst nutzt, um die Widersprüche und Grauzonen aufzuzeigen, in denen sich Moral und Sexualität oft bewegen. Auch der Eindruck, dass Frauen vor allem über Prostitution aus der Armut finden, wirkte auf mich arg klischeehaft. Als ob Frauen sich in ihre Freier verlieben würden – dieser Mythos hält sich hartnäckig in schreibenden Männerköpfen.

Insgesamt ist Anständige Leute ein politisch ambitionierter Roman, der zwar nicht immer literarisch überzeugt, aber durch seine Vielschichtigkeit und historische Tiefe einen perspektivenreichen Blick auf Kubas Gesellschaft bietet.

Ein Dank geht an den Unions-Verlag, der mir das Rezensionsexemplar kostenlos zur Verfügung stellt. Wenn Ihr meine Arbeit unterstützen möchtet, könnt Ihr dies gerne über eine einmalige oder regelmässige Spende tun. Vielen Dank! Jede Spende sichert meine finanzielle Unabhängigkeit.

1 So übersetzt Peter Kultzen den Refrain des Lieds «La Isla del delirio» (Spanisches Original: «Ay amor… la vida es un delirio. Ay amor… esta isla es un suicidio. Ay amor…») Ich hätte «suicidio» eher metaphorisch-untertreibend mit «Himmelfahrtskommando» übersetzt, aber es gibt wohl einen konkreten Vorfall, auf den sich die Aussage bezieht.

Der Zerfall linker Träume in Venezuela

Tobias Lamberts Buch Gescheiterte Utopie. Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez analysiert den Niedergang der venezolanischen Spielart des demokratischen Sozialismus und dessen Transformation in ein autoritäres Regime. Wer am 10. Januar 2025 gut informiert sein möchte – das ist der Tag, an dem sich der jetzige Präsident Nicolás Maduro gegen grosse Widerstände erneut vereidigen lassen will – sollte dieses Buch gelesen haben.

Worum geht es in dem Buch?

  1. Das von Hugo Chávez initiierte Projekt einer demokratischen und antikapitalistischen Transformation Venezuelas („bolivarische Revolution“) ist gescheitert.
  2. Die Regierung unter Nicolás Maduro hat sich zunehmend autoritär entwickelt, was sich in Wahlmanipulationen und Repression der bürgerlichen Opposition zeigt. Es gibt zudem keine nennenswerte Opposition aus linker Perspektive.
  3. Die anhaltende wirtschaftliche Krise des Landes wird auf mehrere Faktoren zurückgeführt:
    • Extraktivismus
    • Misswirtschaft und Korruption in staatlichen Betrieben
    • Vernachlässigung von Investitionen und technologischer Modernisierung
  4. Die enge Verflechtung von Militär und Regierung ist ein Garant für den Machterhalt auch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit.
  5. Zunächst kann Chávez weite Teile der ärmeren Bevölkerung für sich gewinnen.
  6. Lambert kritisiert die zunehmende Zentralisierung der Politik unter Chávez und später dann unter Maduro deutlich, die im Gegensatz zu den basisdemokratischen und partizipativen Initiativen der Anfangszeit des chavismo stehen.
  7. Gleichzeitig zeigt der Autor transparent auf, dass die Strukturen für Bürgerbeteiligung oft lediglich zur politischen Mobilisierung genutzt wurden, anstatt echte partizipative Wirtschaft zu fördern.

Lambert analysiert ausserdem in einem einführenden Kapitel ausführlich die Vorbedingungen der venezolanischen Politik, die den Erfolg von Hugo Chávez erst möglich gemacht haben. Dieser Erfolg resultierte aus der Unzufriedenheit mit einer de-facto Zweiparteienherrschaft, die nicht in der Lage war, die hohe Exposure des Landes vom Erdölexport zukunftsfähig abzumildern. So schreibt Lambert über die Wirtschaftspolitik Venezuelas seit 1936:

1936 formulierte der venezolanische Schriftsteller Arturo Uslar Peitri in einem Zeitschriftenartikel den Anspruch „das Erdöl zu säen“ („sembrar el petróleo“). Damit bezog er sich ursprünglich darauf, mithilfe der Petrodollar den Agrarsektor zu entwickeln. Als Slogan sollte fortan praktisch jede venezolanische Regierung das Ziel verfolgen, die Wirtschaft mithilfe der Eröleinnahmen zu diversifizieren. (S. 13)

Bewertung

Das Buch ist faktenreich geschrieben und gut dokumentiert. Es ist auch sehr aktuell, da es sogar die umstrittenen Wahlen von 2024 mit beinhaltet, deren Ergebnis weiterhin ungewiss ist, so dass derzeit zwei Kandidaten die Präsidentschaft Venezuelas beanspruchen: Nicolás Maduro sowie der Oppositionsführer Edmundo González, dem die Verhaftung droht, sollte er am 10. Januar venezolanischen Boden betreten wollen. Lambert verhehlt nicht die ursprünglichen Sympathien für die politischen und sozialen Reformen, die zunächst geplant waren, zeigt aber auch schonungslos auf, was unter Chávez und Maduro politisch und wirtschaftlich schief gelaufen ist.

Ich habe drei kleinere Kritikpunkte am Buch: 1. Der Text ist sehr informationsreich und erfordert eine hohe Konzentration bei der Lektüre. Ich hätte mir neben dem hilfreichen Glossar daher zusätzliche Visualisierungen gewünscht, vor allem für die zahlreichen statistischen Angaben sowie für Namen, Ereignisse, Parteien und Bewegungen, damit ich mich als Leserin besser orientieren kann. 2. Ich hätte mir eine kurze Analyse der venezolanischen Opposition im Ausland gewünscht, denn bis Ende 2023 haben 7.7 Millionen Menschen ihre Heimat Venezuela verlassen. Gibt es einen stärkeren Beleg für das Scheitern der Utopie? 3. Ich hätte mir zudem eine kritische Auseinandersetzung mit der Begeisterung von Teilen der europäischen Linken mit dem chavismo gewünscht (insbesondere auch die finanziellen Verstrickungen), aber das wäre vielleicht ein anderes Buch. Lambert geht es hier aber eindeutig um die venezolanische Binnenperspektive. Die schätzt der Autor derzeit als wenig optimistisch ein (S. 224).

Der desencanto der deutschen Linken mit Venezuela ist allein schon daran abzulesen, dass es seit dem Tod Chávez‘ – gemäss Lamberts Recherche – keine nennenswerten deutschsprachigen Publikationen mehr gab. Von daher ist ein Buch, wie das Lamberts, überfällig. Wer also zum Thema Venezuela mitreden möchte, ob aus journalistischer oder wissenschaftlicher Perspektive, kommt an Tobias Lambert nicht vorbei.

50. Jahrestag des Militärputsches in Chile

Lange habe ich überlegt, ob ich einen eigenen Beitrag zu diesem wichtigen Ereignis der lateinamerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben soll. Doch werden dieser Tage, in denen sich der Jahrestages des Militärputsches gegen die Regierung Salvador Allendes zum 50. Mal jährt, einige gute Rückblicke geschrieben bzw. dokumentiert, so dass ich Redundanz vermeiden und stattdessen auf diese verweisen kann.

Besonders empfehle ich die dreiteilige Dokumentationsserie Der Kampf um Chile von 1975-1979. Sie wird diese Woche von ARTE auch im analogen Fernsehen ausgestrahlt, ist aber bis 2026 in der Mediathek verfügbar. Sie ist ein wichtiges Zeitzeugnis der 70er Jahre und hat auch noch mein späteres Bild des Staatsstreiches als Schülerin geprägt.

Wie Gitte Cullmann für die Heinrich-Böll-Stiftung schreibt, sind aus den Wunden von damals Narben geworden. Sie hindern die politischen Seiten im Land (und außerhalb) immer noch daran, einen zukunftsgerichteten Diskurs im Umgang mit dieser gewalttätigen Machtübernahme Augusto Pinochets zu finden. Deshalb ist die Initiative des derzeitigen chilenischen Staatspräsidenten Gabriel Boric und vier seiner Vorgänger bzw. Vorgängerin, die seit dem Wiederherstellen der Demokratie das Land geführt haben, umso wichtiger. Sie appellieren, jenseits aller politischen Differenzen die Erinnerung an die Ereignisse wach zu halten, um die Demokratie weiter zu stärken. Ob die Initiative über den symbolischen Charakter hinaus etwas bewegen kann, ist völlig unklar. Es braucht mehr als Papier, um die zerstrittenen Parteien wieder miteinander ins Gespräch zu bringen.

Auch literarisch spielt der Militärputsch gegen Salvador Allende bis heute eine grosse Rolle. Anekdotisch empfehlen möchte ich an dieser Stelle Roberto Ampueros El último tango de Salvador Allende. Die taz hat eine Übersicht der bekanntesten Bücher zusammengestellt, in denen der Putsch behandelt wird. In dieser Übersicht finden sich neben fiktionalen Werken auch einige Sachbücher. Was Isabel Allende angeht, würde ich Mi país inventado ergänzen.

Für mich bleibt die Machtübernahme 1973 unweigerlich auch mit dem Tod Victor Jaras verbunden. Er ist für mich bis heute einer der wichtigsten politischen Kunstschaffenden Lateinamerikas. Seine Musik prägte die progressive deutsche Jugend der 80er Jahre. Jara wurde in den ersten Tagen nach dem Putsch mit vielen anderen brutal im Fussbaldstadion Santiago de Chiles gefoltert und gequält. Seine Leiche wurde am 16. September 1973 aufgefunden. Erst vor kurzem – vermutlich ist das Timing politisch mit Blick auf den Jahrestag motiviert – wurden die Verantwortlichen der Greueltat rechtskräftig verurteilt.

Kulturelles Trauma

Im aktuellen Tertulia-Newsletter beschäftige ich mich mit drei Themen, die allesamt um kulturelle Traumata kreisen.

Das ist zum einen die Vernachlässigung und Unterdrückung der regionalen Kultur des kolumbianischen Departments Chocó. Ich zeige auf, wie die Autorin und Kulturmanagerin Velia Videl diesen Missstand beheben möchte. Im zweiten Thema geht es um die Aufarbeitung eines traumatischen Ereignisses der jüngeren kolumbianischen Geschichte: Helena Urán Bidegain schreibt über die Besetzung des Justizpalastes in Bogotá im Jahr 1985, bei der ihr Vater ums Leben kam. Zu guter Letzt kommentiere ich die Wahlen vom 07. November 2021 in Nicaragua, die Erinnerungen an die Somoza-Diktatur wachrufen.

Hier geht es zum Newsletter: https://tertulia.substack.com/p/dealing-with-cultural-trauma

Neues aus Nicaragua und Kolumbien

Im aktuellen Newsletter gehe ich auf die Situation des nicaraguanischen Schriftstellers Sergio Ramírez ein. Seinem ehemaligen Weggefährten aus der FSLN und heutigem Präsidenten Nicaraguas, Daniel Ortega, gefällt die beissende Systemkritik des Schriftstellers in seinem neuen Buch Tongolele no sabía bailar nicht. Er lässt den Schriftsteller per Haftbefehl suchen. Überhaupt versucht Ortega kritische Stimmen mundtot zu machen, indem er sie verhaften lässt. Das tut er, um seinen Gewinn bei den Präsidentschaftswahlen im November sicherzustellen.

Die beiden weiteren News kommen aus Kolumbien. Kolumbien führt im zweiten Jahr in Folge eine traurige Rangliste an: Nirgendwo sonst leben Umweltschützer und -aktivistinnen gefährlicher. Die gegenwärtige Regierung schafft es nicht, das Leben dieser Menschen wirksam zu schützen.

Auf der positiven Seite berichte ich von einem Projekt zum Schutz der Korallenriffe vor der kolumbianischen Insel San Andrés. Ziel ist es, mit Hilfe des 3D-Drucks Strukturen zu schaffen, die ein optimales Umfeld für die Ansiedlung neuer Korallen dort wieder herstellen, wo einem Riff bereits aufgrund des Klimawandels erhebliche Schäden zugefügt wurden. Das Projekt nahm seinen Anfang an der Zürcher ETH.

Hier geht es zum Newsletter: https://tertulia.substack.com/p/letters-from-nicaragua-and-colombia

Der Blick zurück: Juan Gabriel Vásquez‘ neuer Roman

Die Katastrophe dieser Tage zählt bereits etwa dreißig Tote, aber in Wirklichkeit reicht die Liste der Opfer sehr weit in die Vergangenheit zurück. Das geht in meinem Land, das von den schlechten Nachrichten der Gegenwart so überwältigt ist, dass es weder Zeit noch Kopf hat, sich mit der näheren Vergangenheit zu beschäftigen, leicht vergessen. (Juan Gabriel Vásquez, „Protestas en Colombia: La historia de un incendio“, El País, 9.5.21)

Mit diesen Sätzen kommentiert der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez die aktuellen Ereignisse in Kolumbien, wo seit dem 27. April zahlreiche Demonstrationen und Proteste als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der sozioökonomischen Situationen des Landes stattfinden. Die Proteste, paro nacional, haben zu einer Eskalation der Gewalt geführt, mit inzwischen mehr als 30 Toten und zahlreichen Vermissten auf Seiten der Demonstrierenden sowie zu mehr als 600 verletzten Polizisten. Wie Vásquez richtig schreibt, kommen diese Proteste nicht ganz unvorbereitet, sondern sind Ausdruck einer Unzufriedenheit, die sich seit einigen Jahren aufgestaut hat.

Was Vásquez in seinem Kommentar für El País beschreibt, ist immer wieder Thema einiger seiner Romane: die politische und soziale Polarisierung in seinem Land, die rasche und unversöhnliche Eskalation der Gewalt der beteiligten Parteien sowie die utopische Suche nach einer Zukunft, die alle einschliessen könnte – auch wenn dies bedeuten könnte, dass diejenigen, die gegenläufige Vorstellungen haben, zum Schweigen gebracht werden müssen. So auch in seinem neuen Roman, Volver la vista atrás: Es braucht Zeit und Kopf, die eigene Vergangenheit und Grundhaltungen kritisch zu analysieren, um neue Wege zu finden.


Bei dem Buch handelt es sich um einen Rückblick auf das Leben des bekannten kolumbianischen Regisseurs Sergio Cabrera und seiner Familie. Die Familiensage illustriert, wie politischer Idealismus zu Gewaltbereitschaft und Terror führen kann. Der Roman ist sehr gut geschrieben, in einem kristallklaren und sehr nüchternen Stil, wie er für Vásquez typisch ist. Mit diesem Rückblick gelingt ihm nicht nur eine Rückschau auf 80 Jahre Familiengeschichte, sondern auch eine Rückschau auf das 20. Jahrhundert, seine sozialen Bewegungen und das Engagement von Intellektuellen.

In meinem aktuellen Newsletter habe ich ausführlicher über den Roman und seinen kulturellen Kontext geschrieben.

Mario Vargas Llosa zum 85. Geburtstag

Martina Kopf, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an meiner Alma Mater, der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, hat eine kompakte Würdigung zum 85. Geburtstag des peruanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa geschrieben. Vargas Llosa wurde am 28. März 1936 in der für mich schönsten peruanischen Stadt, Arequipa, geboren. Pues, vale más tarde que nunca:¡Feliz cumpleaños, maestro!

Kopfs Resümee über sein Gesamtwerk deckt sich mit meiner Einschätzung: eine grosse literarische Leistung, mit einigen schwächeren Seiten. So halte ich den Roman, der ihn berühmt gemacht hat, für überschätzt. Ich fand die Lektüre La ciudad y los perros äusserst unangenehm. Ich konnte weder Handlung noch Erzähltechnik viel abgewinnen, auch wenn der Einfluss des Romans auf die weitere Entwicklung des lateinamerikanischen Romans sehr gross war. Auch was seinen machismo angeht, sind andere, so finde ich, besser gealtert.

Fiktionen ohne Hoffnung: Lateinamerikas junge Autorinnen (Hörempfehlung)

Der Publizist Peter B. Schumann, der auch Vorstandmitglied im Förderkreis des Ibero-Amerikanischen Instituts Preußischer Kulturbesitz zu Berlin e.V. ist, stellt in seinem neuen Feature für den Deutschlandfunk fünf lateinamerikanische Autorinnen vor: Fernanda Melchor aus Mexico, Rita Indiana aus der Dominikanischen Republik sowie die Argentinierinnen Samanta Schweblin, Ariana Harwicz und Agustina Bazterrica. Sehr empfehlenswert!

Das Feature kann auf dieser Seite nachgehört werden: https://www.deutschlandfunkkultur.de/lateinamerikas-neue-autorinnengeneration-fiktionen-ohne.974.de.html?dram:article_id=491722

Auf derselben Seite kann auch das Manuskript heruntergeladen werden.

Das Feature zeigt eindrücklich, dass viele dieser Erzählungen und Romane den Weg in die deutschen Buchhandlungen erst über den englischsprachigen Markt finden. Schumann konstatiert, dass bereits Bolaño ein gutes Beispiel dafür war. Dieser wurde erst in Deutschland bekannt, nachdem er in den USA hochgelobt worden war. Von daher ist es auch wichtig, immer wieder internationale englischsprachige Buchpreise zu beobachten. Denn dort haben die genannten Autorinnen erstaunlich viel Erfolg und eröffnen sich damit auch die Möglichkeit einer Übersetzung ins Deutsche. Hinter dieser Tendenz kann man auch die internationale Konzentration des Buchmarktes als Ursache vermuten. Es ist jedoch so, dass in Lateinamerika in den letzten Jahren eine Vielzahl kleiner, unabhängiger Buchverlage entstanden sind. Sie sind es oft, wo diese Frauen zunächst publizieren.

Ich habe mich mit den genannten Schriftstellerinnen bisher eher schwer getan. Die Kühle und Brutalität fand ich teils artifiziell, das sprach mich nicht an; aber nach diesem Feature werde ich einen neuen Anlauf nehmen. Schweblins Kentukis liegt beispielsweise (fast) ungelesen auf meinem Tsundoku-Stapel.

Tatort Montevideo

Mercedes Rosende ist eine originelle und witzige Schriftstellerin aus Uruguay. Ich habe diesen Sommer ihre beiden Romane Falsche Ursula (2020) und Krokodilstränen (2018) gelesen.

Manchmal ist es gut, etwas später dran zu sein. Das deutschsprachige Publikum durfte zunächst die Krokodilstränen lesen, obwohl dieses Buch die Fortsetzung zu den Ereignissen im Krimi Falsche Ursula (im spanischen Original unter dem Titel La mujer equivocada bereits 2016 erschienen) erzählt. Erst dieses Jahr ist die erste Episode über die kriminellen Verstrickungen der Protagonistin Úrsula López im Deutschen erschienen. Auch wenn ich froh war, die beiden Bücher in der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens des spanischen Originals zu lesen, tut auch ein Lesen in umgekehrter Reihenfolge dem Lesevergnügen keinen Abbruch: Die Falsche Ursula wird dann einfach zum Prequel.

Erst die Entführung, dann der Raubüberfall

Worum geht’s also, wenn wir uns die Romane in der Reihenfolge der Ereignisse anschauen? Úrsula erhält einen Erpresseranruf. Ihr Mann sei entführt worden und sie solle doch bitte Lösegeld zahlen, wenn sie ihn wiedersehen wolle. Das Problem? Úrsula ist gar nicht verheiratet. Sie nutzt die Verwechslung aber aus, um sich in den Entführungsfall einzumischen. Das führt zu einigen Verwirrungen, auch mit der tatsächlichen Ex-Ehefrau, die noch ganz andere Forderungen stellt. Úrsulas impulsives Agieren hat mich zunächst verblüfft, wie sie sich so tolldreist auf kriminelle Aktivitäten einlässt. Wer mit den Krokodilstränen angefangen hat, wird sich dagegen wenig wundern.

Der Entführungsfall wird aufgeklärt. Ob Ursula diese Entführungsgeschichte legal und psychologisch gut übersteht, soll hier nicht verraten werden. In den Krokodilstränen erfahren wir dann wesentlich mehr über sie und ihre dunklen Seiten. In diesem zweiten Roman geht es um einen bewaffneten Überfall auf einen Geldtransporter. Úrsula wird in diesen verwickelt, weil Germán – das ist einer der Typen, die die Entführung des ersten Romans verantworten – sie involviert. Was da genau passiert, ist eigentlich egal. Der Verlauf folgt einem typischen Heist-Movie. Es ist sehr spannend und lustig. Und geht auf den ersten Blick ordentlich schief.

„Den Lauen wird Gott ausspeien“: Schlaue Frauen und männliche Trottel

Rosende geht es natürlich auch um die Spannung und das Vergnügen. Viel mehr ist sie jedoch an der Darstellung und Entwicklung der Personen interessiert. Das ist auch aus meiner Sicht das Spannendste überhaupt. Die Erzählerin kann sehr gut beobachten und überlässt uns das Urteil.

Die interessanteste Person, die die Geschehnisse aus ihrer Perspektive darstellen darf, ist die Protagonistin Úrsula. Sie selber stellt sich als Opfer einer repressiven Oberschicht-Erziehung dar, die den Ansprüchen ihres Vaters nicht gerecht wurde: alleinstehend, übergewichtig, ohne besondere soziale Kontakte lebt sie in der Wohnung in der Altstadt von Montevideo, die sie von ihrem Vater geerbt hat. Ihr gehören denn auch zunächst viele Sympathien, was mich aber gleich misstrauisch machte. Die Zwiegespräche mit dem toten Vater sind mit das Beste in beiden Romanen. Erst mit der Lektüre der „Krokodilstränen“ offenbart sich, dass sie nicht nur Opfer ist.

Viele Passagen werden aus der Sicht Úrsulas erzählt, aber wir erfahren auch, wie es dem einfältigen Germán ergeht, der an der Entführung beteiligt war und nun am Überfall auf den Geldtransporter teilnimmt. Wir lernen Roto kennen, der zum einen ein skrupelloser Vergewaltiger ist, aber dann auch unschuldig als Mörder verurteilt wird. Interessant ist auch die Perspektive Antinuccis. Das ist Germáns religöser Anwalt, der sich als grandioser Mafioso entpuppt. Im zweiten Roman spielt auch Leonilda Lima, eine Polizistin, eine gewisse Rolle. Sie nimmt die Perspektive der aufrechten Beamtin ein, die zwischen Resignation und Idealismus hin und her gerissen wird.

Generell kann ich sagen, dass die Männer in beiden Romanen ziemlich trottelig dargestellt werden. An erster Stelle ist dies Germán, dem gar nichts gelingen will. Aber auch Roto oder Antinucci stehen ihm kaum nach. Dennoch werden sie nie als gänzlich unsympathisch dargestellt. Sie sind eben Trottel. Ihre Verbrechen gehen nicht auf, weil sie nicht intelligent genug sind. Thomas Wörtche hat dazu die treffenden Worte in seiner Laudatio anlässlich der Preisverleihung des Liberatur-Preises 2019 an Mercedes Rosende gefunden.

Montevideo als beste Nebendarstellerin

Montevideo ist als Schauplatz die beste Nebendarstellerin der beiden Romane. Es gibt vor Ort all das zu erleben, was man in einem ordentlichen Heist-Movie erwartet: detailgetreue Verfolgungsjagden in der Provinz und in der Altstadt, die sich über Google-Maps rekonstruieren lassen. Rosende selber hat ihren Erfolg im deutschsprachigen Raum damit zu erklären versucht, dass die Lesenden den Tatort Montevideo als besonders exotisch wahrgenommen hätten (auch wenn sie dies selber nicht intendiert hat):

Me llama mucho la atención que a ellos les resulte exótica mi literatura, que habla mucho de Montevideo, está muy aferrada a la geografía montevideana. Lo que menos se me ocurrió al escribir fue tratar de darle un viso de exotismo (risas).

https://www.republica.com.uy/mercedes-rosende-la-autora-uruguaya-que-conquisto-alemania-id711469/

Aus meiner Sicht ist die Darstellung Montevideos und ihrer Bewohner nicht exotisch. Montevideo wird detailliert beschrieben. Die sozialen Unterschiede zwischen dem Oberschicht-Viertel Carrasco, der heruntergekommen Altstadt und dem Vorstadtviertel, in dem der Raubüberfall geplant ist, treten deutlich zutage; aber es könnte auch eine mittelgrosse Metropole in Europa sein, die soziale Spannungen kennt. Die Romane könnten also auch in Brest, Genua oder Brighton spielen. Viel wichtiger als die exotische Geografie ist die Kartierung der sozialen Unterschiede: Hier leben die Wohlhabenden, dort leben die Mittellosen. Vermeintlich trennt sie das Viertel, in dem sie leben. Sie alle leiden aber gleichermassen unter der mafiös-korrupten Verwahrlosung des öffentlichen Raumes.

Wertung

Beide Romane lassen sich leicht und vergnüglich lesen. Wie bereits gesagt, die Reihenfolge der Lektüre ist sekundär. Ich persönlich fand die Falsche Ursula überzeugender, weil man sich in diesem Buch voll auf die Protagonistin einlassen kann. Und ja, diese Episode ist die konventionellere. Die meisten Kapitel werden aus der Perspektive Úrsulas geschildert – natürlich ist da auch Argwohn angesagt. Die Dame, die zunächst zu Mitgefühl einlädt, weil ihr Papa sie so hart erzogen hat und sie ständig Diät machen muss/will, hat wohl einige dunkle Geheimnisse. Um diese wird im zweiten Roman kein Hehl gemacht.

In Krokodilstränen ändert sich die Perspektive denn auch viel häufiger und sehr kurzfristig. Die Kapitel sind sehr kurz. Das ist an sich spannend, gerade weil man sich damit auch weniger von Úrsula einnehmen lassen kann, die ungeahnte kriminelle Energien entlädt. Auf mich wirkten diese häufigen Perspektivwechsel allerdings ein wenig übertrieben – fast so wie die Szenenwechsel in einer Telenovela, wo ich spätestens nach 5 Minuten zu einer anderen Konstellation wechseln muss, um die Sache am Laufen zu halten. Was in der Telenovela okay sein mag, weil es zwischengeschaltete Werbesendungen gibt, hat mich im Roman weniger überzeugt. Der Fluss der Lesens ging für mich verloren.

Insgesamt kann ich beide Romane als vergnügliche und originelle Unterhaltung sehr empfehlen.