Titelblätter spanischer Tageszeitungen zum Tod von Francisco Franco

Franco, der ewige Faschist

Am 20. November jährt sich der Todestag Francisco Francos zum 50. Mal. Anlässlich dieses Datums stelle ich Euch in meinem heutigen Artikel die Biografie Franco. Der ewige Faschist des Bildungsforschers Till Kössler vor. Diese richtet sich explizit an ein deutschsprachiges Publikum.

Im Sommer ließ mich die Unterhaltung mit einer spanischen Bekannten über die derzeitige Polarisierung des politischen Diskurses im Land perplex zurück. Beiläufig bemerkte sie, dass Franco zwar als Diktator regiert habe. Doch er wäre vielleicht in der damaligen Zeit das Beste für Spanien gewesen. Noch verstörter war ich, als ich eben diese Meinung in Till Kösslers aktueller Biografie des spanischen Diktators wiederfand. Dieses Mal stammt diese Einschätzung nicht aus dem Mund einer konservativen Spanierin, sondern einer überzeugten deutschen Liberalen. Kössler zitiert die ehemalige Herausgeberin der ZEIT, Marion Gäfin Dönhoff nach einem Besuch in Madrid im Jahr 1950, die die Politik Francos als „höchstinteressantes Experiment“ und „Kompromiß zwischen Autorität und Freiheit“ bezeichnet, welches „sich vielleicht in keinem anderen Lande halten könnte und das doch für Spanien, die Spanier und ihre heutige Lage offenbar das einzig adäquate ist.“ (zitiert nach Kössler, 2025, S.228).

Zielsetzung und These

Till Kössler, Erziehungswissenschaftler und Historiker an der Universität Köln, geht akribisch diesen widersprüchlichen Auslegungen der franquistischen Diktatur nach. War Franco ein brutaler Gewaltherrscher? Oder ging er den für Spanien einzig machbaren Weg, für den er im Land bis heute Zustimmung findet? Kösslers Ziel ist es, aufzuzeigen, dass Franco während seiner gesamten Regierungszeit eine faschistische Symbolsprache und Großmachtfantasien beibehielt, die zu brutaler Repression Andersdenkender führten. Bis zuletzt blieb sein Weltbild von verschwörungstheoretischen Mythen und einem rückwärts gewandten Anti-Amerikanismus und Anti-Liberalismus geprägt. Typisch für seine autoritär-diktatorische Regierungsführung sind auch die Schilderungen einer allgegenwärtigen Korruption, mit der Franco die eigene Macht verfestigte (s. S. 272f.).

Fokus auf sozialen und kulturellen Kontexten

Entlang der Zäsuren der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts will Kössler seine These aus dem Titel belegen. Der Verlust der letzten Kolonien Spaniens war ein markanter Einschnitt. Auch der militärische Einsatz im Protektorat Marokko, der Sturz der Monarchie und der brutale Bürgerkrieg prägten ihn. Diese Ereignisse formten seine Identifikation als Militär und antidemokratischer Monarchist. Kössler zeigt auch, dass die vermeintliche Öffnung nach dem Zweiten Weltkrieg aus pragmatischen Gründen erfolgte. Franco konnte sich ideologisch nie mit dieser wirtschaftlichen Öffnung anfreunden. Franco regierte mit harter Hand in einem Land, das sich in Sieger und Besiegte spaltete, auch als er längst die Uniform gegen einen zivilen Anzug ausgetauscht und der europäische Massentourismus die spanischen Strände entdeckt hatte (S. 261).

Dabei wählt Kössler bewusst keinen persönlichkeitszentrierten Zugang (das haben andere bereits getan). Ihm geht es um etwas anderes, in seinen eigenen Worten:

Das vorliegende Buch wählt einen anderen Zugang. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die sozialen und kulturellen Kräfte und Kontexte, die Francos Handeln prägten, seinen Aufstieg ermöglichten und sein Wirken als Diktator bestimmten. Anstatt über Charaktereigenschaften des spanischen Diktators zu streiten, erscheint es ergiebiger,ihn in gesellschaftlichen und kulturellen Milieus und Institutionen zu verorten, vor allem dem Militär, und die politischen Netzwerke zu betrachten, denen er zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens angehörte. (S. 15)

Bewertung und Relevanz

Kössler wendet sich mit seiner Monografie an ein breites deutschsprachiges Publikum. Er schreibt stets verständlich und macht die Bezüge zur deutschen Politik transparent. Sehr gut gefallen mir die detaillierten Übersichten: eine Zeittafel, eine Karte mit den Hauptstationen im Leben Francos, die umfassende Auswahlbibliografie und ein ausführlicher Index. Der Autor richtet sich ausdrücklich nicht an ein akademisches Publikum, arbeitet dennoch stets wissenschaftlich solide. Teilweise wird trotz des populärwissenschaftlichen Ansatzes viel von der Leserschaft erwartet, z.B. wenn es um das Kontextwissen bestimmter Ereignisse und Prozesse geht (etwa Spaniens Rolle in Marokko oder die Definition und Erkennungsmerkmale faschistischer Ideologie). Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass Kössler bestimmte Vertreter der Franco-Forschung häufiger namentlich einbringt, um den historischen Diskurs um die Auslegung der Rolle Francos transparenter zu machen. Häufig unterscheidet er lediglich wohlwollende und kritische Forschende. Das erleichtert zwar den Lesefluss, erschwert aber die weitergehende Einordnung von Kösslers Argumentationslogik.

Kössler stützt sich insgesamt auf zahlreiche Originalquellen, wobei die Aufzeichnungen von Francos Cousin Francisco Franco Salgado-Araujo eine zentrale Rolle spielen. Salgado war über viele Jahrzehnte Francos Privatsekretär, in Francos monarchisch-autoritärem Sprachgebrauch sein Kammerdiener („ayuda de cámara“). Ich hätte mir darüber hinaus noch mehr direkte O-Töne Francos gewünscht. Dadurch hätte ich einen unmittelbareren Einblick in seine Rhetorik erhalten. So könnten faschistische Elemente besser erkannt und benannt werden. Die Bedeutung von Salgados Aufzeichnungen soll dies nicht schmälern.

Im Jahr 2025 ist wieder von autoritären und faschistoiden Tendenzen in der Politik die Rede. Diese Tendenzen drängen sich laut und lärmend in die politische Praxis. Gerade in Spanien selbst haben zahlreiche revisionistische Kräfte die positive Geschichte vom väterlichen Diktator wiederbelebt, wie Julia Macher erst kürzlich zeigte. Kösslers Buch bietet daher nicht nur einen historischen Einblick, wie ein autoritärer Staat entstanden ist. In diesem Sinne ist es auch eine Einladung an Demokraten und Demokratinnen, das dazu aufruft, das Entstehen eines solchen Staates zu erkennen und zu verhindern. Eine empfehlenswerte, lehrreiche Lektüre.

Wo bleibt die Schule der Aufgeschlossenheit?

«Ihr wollt Euch nur selbst hören.» (zitiert nach Pörksen, 2025, S. 271)

Mit diesem Ausruf einer Fotografin anlässlich der unversöhnlichen Debatte bei einem Lesemarathon von Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in Hamburg ist das Problem, dem sich Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch annimmt, sehr gut auf den Punkt gebracht. Wie schaffen wir es wieder, dass wir uns in gesellschaftlichen Diskursen gegenseitig zuhören können? Wann und unter welchen Bedingungen entsteht eine «kollektive Zuhörbereitschaft» (S. 24)? Ich habe Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen, für Euch gelesen.

Zuhören auf Reisen

Um Wege zu finden, die aus der Welt der kommunikativen Polarisierung, Ich-Vermarktung und dem Heischen nach Aufmerksamkeit herausführen, geht Bernhard Pörksen auf Reisen. Unterwegs spricht er mit Menschen, von denen er sich Lösungen für die grossen gesellschaftlichen Herausforderungen in Sachen Kommunikation verspricht. So trifft er sich immer wieder mit einem Jungunternehmer aus der Ukraine und diskutiert mit ihm darüber ist, wie man als angegriffenes Land in einer lauten Welt voller Katastrophenmeldungen und verbohrter Meinungen gehört werden kann. Dieses Interview hat nicht nur eine politische Seite, sondern auch eine menschliche. Über die Invasion der Ukraine zerbricht auch das Verhältnis Misha Katsurins mit seinem Vater, der in Russland lebt und die Erzählung des Kremls übernimmt. Er trifft ausserdem Stewart Brand, der im positiven Sinn den Mythos des Silicon Valley mitbegründet hat sowie den ehemaligen Gouverneur Kaliforniens Jerry Brown. Er schreibt über die Künstlerin Jenny Odell, den Internet-Ethiker Tristan Harris, den Klimajournalisten Andrew Revkin und spricht mit Luisa Neubauer in Hamburg. Doch er beginnt mit einer Reflexion, die ihm persönlich am Herzen liegt. Wie konnte es geschehen, dass in seinem eigenen progressiven pädagogischen Umfeld die Missbrauchs-Praxis an der Odenwald-Schule so lange vertuscht werden konnte? Wie konnte es sein, dass die Missbrauchten jahrelang kein Gehör fanden? Und wann wurden sie dann doch gehört? Auf diesen zentralen Fragen gründet Pörksen seine eigene Praxis des Zuhörens. Gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern und unter Rückgriff auf deren Umfeld analysiert er das allgegenwärtige kommunikative rabbit hole, in dem sich viele Menschen befinden, und überlegt in einem abschliessenden Kapitel, wie wir aus ebendiesem herauskommen könnten.

Bewertung

Angesichts des Titels könnte der Eindruck entstehen, es handle sich um einen Reader über Gesprächsführung, aber darum geht es ihm nicht. Es handelt sich nicht um ein Ratgeber-Buch, sondern einen Essayband. Als Medienwissenschaftler geht es ihm um konstruktive gesellschaftliche Diskursgestaltung. Alle sagen, was immer ihnen beliebt. Aber wer hört noch zu? Diese Analysen führt er stets konstruktiv und unterhaltsam aus; er wirkt nie belehrend wissend, sondern neugierig suchend und auch selbstkritisch. Das wirkt überzeugend, denn so erfahren wir, was es für ihn persönlich braucht, dass er zuhören kann. So kommt er zum Schluss:

Denn bevor man kritisiert, bevor man für andere Formen des pluralismusfreundlichen Sprechens und Schreibens plädiert und diese einübt, bevor man überhaupt zu einer einigermaßen begründbaren Reaktion gelangen kann, gilt es, sich dem anderen erst einmal zuzuwenden, fasziniert von seiner unvermeidlichen Fremdheit, voller Neugier und Vorfreude auf das, was sich zeigen und im Gespräch offenbaren könnte: Das ist der Weg des Zuhörens, das ist der Weg der Komplexitätssteigerung von Wahrnehmung durch die Konkretion und die Kontextbetrachtung, von dem dieses Buch handelte. (Pörksen, 275-276)

Am Ende verweist Pörksen die Verantwortung für den offenen gesellschaftlichen Diskurs also an das Individuum zurück, was mich als Schlussfolgerung ein wenig enttäuscht hat. Zwar stellt er bereits zu Beginn seiner Ausführungen methodisch fest, dass es nie nur um die individuelle Tiefengeschichte gehe, die den Grundstein für Zuhören lege, sondern um das Zusammenspiel dieser individuellen Erfahrungen mit kollektivpsychologischer Dynamik und medialen Rahmenbedingungen. Doch – so mein Gesamteindruck – lässt er das sowieso schon überforderte Individuum allein zurück in seinem kraftvoll formulierten Schlussappell, denn er lässt strukturelle Faktoren, die helfen könnten, das Individuum in seiner Offenheit zu bestärken oder diese Offenheit überhaupt erst wieder entstehen zu lassen, ungesagt. Es ist sicherlich so, dass jeder Mensch zunächst einmal sich selbst zuhören können muss, bevor er sich anderen gegenüber öffnen kann. Doch muss jeder das so ganz alleine schaffen? Braucht es dafür nicht eine systematische Schule der Offenheit bzw. Aufgeschlossenheit, die allen offen steht? Vielleicht liegt Pörksens Verweis auf die Verantwortung des Einzelnen für das Entstehen von Dialogräumen auch darin begründet, dass er sich von seinen Gesprächspartnern – ebenso wie er sind das ausserordentlich autark wirkende und mehr als selbstbewusste Persönlichkeiten – hat beeinflussen lassen. Ob diese ihm bei seinen Fragen immer zugehört haben?

Danke an den Hanser-Verlag, der mir für die Rezension ein kostenloses Buchexemplar zur Verfügung gestellt hat.
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Diese Insel ist ein Himmelfahrtskommando

„Ach, meine Liebe… das Leben ist Delirium. Ach, meine Liebe… diese Insel ist Selbstmord. Ach, meine Liebe…“1, so besingt Jorgito Kamankola seine Heimat Kuba. Für diesen Refrain hat sich der Musiker von Mario Conde inspirieren lassen, dem Protagonisten der Havanna-Romane Leonardo Paduras. Ich habe den letzten Mario-Condo-Roman, Personas decentes, in der deutschen Übersetzung von Peter Kultzen gelesen. Die Übersetzung trägt den Titel Anständige Leute und ist 2024 im Unionsverlag Zürich erschienen.

Mehrere Handlungsstränge

Padura wiederum lässt sich auch von Kamankola inspirieren und übernimmt den Refrain als Epigraph für seinen Roman. Welchen Herausforderungen muss sich seine Hauptfigur Mario Conde, der zwar schon seit langem nicht mehr Polizist ist, aber immer wieder seine alten Kollegen unterstützt, dieses Mal stellen? Worin genau besteht das Delirium, dass im Epigraph angesprochen wird? Wie immer entwirft Padura seine Handlung nicht linear, sondern verschränkt sie mit historischen Überlegungen und weiteren Geschichten.

Die erste Handlungsebene spielt im Havanna des Jahres 2016. Das ist das letzte Mal, in dem in Kuba wieder einmal die Hoffnung auf politische Erneuerung aufkam: Obama kommt zu Besuch. Die Rolling Stones geben ein Konzert. In diesem Kontext macht sich Mario Conde auf die Suche nach dem Mörder, der Reynaldo Quevedo, ein ehemaliges Mitglied des kubanischen Repressionsapparats, auf brutale Weise umgebracht hat.

Dieser bereicherte sich in den Jahren des sogenannten «Quinquenio gris» zu Beginn der Siebziger Jahre in der Form, dass er die Werke von Künstlern und Künsterinnen, die unter seiner Zensur und seinen Repressalien litten, an sich nahm und diese später für viel Geld weiterverkaufte. Dabei profitierte Quevedo von den Mittlerdiensten seines Schwiegersohns. Das «Quinquenio gris», die grauen Jahre, waren allgemein geprägt von kultureller Zensur. Künstler und Intellektuelle, vor allem solche der LGBT-Gemeinschaft, wurden schikaniert. Conde und die Polizei vermuten deshalb, dass es sich bei dem Mord um einen Racheakt handeln könnte. Diese zweite Ebene stellt im engeren Sinne keine eigene Handlungsebene dar, sondern wird über Erzählungen, Reflexionen und historische Hypothesenbildung eingeblendet.

Bei der dritten Handlungsebene springt Padura zurück in die Gründungsjahre Kubas, indem er seinen Helden Mario Conde eine Erzählung schreiben lässt. Der Ex-Polizist, Buchhändler und Türsteher im «Dulce vida» träumt nämlich davon, Schriftsteller zu werden. In seiner Geschichte geht es um den Aufstieg und die Ermordung des reichen Zuhälters Alberto Yarini, die aus der Perspektive des Polizisten Arturo Saborit erzählt wird. Diese zweite Erzählung aus dem Rotlichtmilieu Havannas der Jahre 1910/11 wechselt sich mit der Haupterzählung von 2016 ab.

Wir erhalten also gleich zwei Kriminalfälle in einem Buch und dazu ganz viel Geschichte geliefert, Napoleon Bonaparte inklusive.

Interpretation

In allen Handlungssträngen geht es um die Konstanten des Lebens auf Kuba. Unabhängig vom politischen System stehen Menschen in jeder historischen Epoche vor der Herausforderung, sich moralisch zu behaupten, also anständig zu bleiben. Ich möchte gerne einige zentrale Aspekte des Romans aufgreifen:

Der Roman nutzt das Genre des Kriminalromans, um eine tiefgreifende Kritik am kubanischen Machtsystem zu üben. Das kennen wir von Padura, ist aber sehr viel direkter und unverblümter als in früheren Büchern. Durch die Ermittlungen Mario Condes werden die Schattenseiten des Lebens auf Kuba beleuchtet – von Korruption über Machtmissbrauch bis hin zum moralischen Verfall. Der neue Mensch des Sozialismus ist wie der alte. Der Titel kann nur ironisch verstanden werden, da auch die vermeintlich „Anständigen“ zu Kriminellen werden können – aber ich möchte nicht zu viel verraten.

Durch die verschiedenen historischen Epochen, die im Roman eine Rolle spielen, gelingt es Padura auch, die sozialen Veränderungen in Kuba aufzuzeigen: von den Gründerjahren über die Repressalien des kubanischen Regimes bis hin zum tristen Alltag der Aktualität, der immer mehr Kubaner und Kubanerinnen den Rücken kehren wollen. Der Kontrast zwischen den Idealen der Revolution und der heutigen sozialen Realität wird auf jeder Seite des Romans deutlich. Die soziale Ungleichheit ist seit der Revolution unverändert gross geblieben – auch im Vergleich zu den mafiösen Gründerjahren, als sich Macht durch Gewalt definierte.

Zentral im Roman sind moralische Ambiguität und persönliche Integrität. Wie kann man in einem korrupten System – einem ungezügelten, mafiösen Kapitalismus auf der einen Seite, dem repressiven Sozialismus auf der anderen Seite – als Mensch anständig bleiben? Die Grenzen zwischen Gut und Böse können verschwimmen, wobei Mario Conde – auch selbst nicht ganz fehlerfrei – doch meist einen klaren Blick auf die Verwerfungen des Systems zu bewahren scheint. Dies gelingt ihm auf den ersten Blick vor allem deshalb, da er als Aussteiger aus dem System eine beobachtende Position einnehmen kann. Gerade die zweite Erzählung, von ihm geschrieben und möglicherweise mit autofiktionalen Einsprengseln, lässt aber lange offen, ob Mario Conde seine Integrität auf Dauer wahren kann. Das sorgt für Spannung bis zum Schluss.

Wertung

Obwohl mir der Einstieg nicht leicht fiel – zahlreiche Erläuterungen fand ich weitschweifig, Sätze waren zu lang und wirkten behäbig, das Namedropping zahlreicher Figuren aus dem Mario-Conde-Universum und eine zunächst lose wirkende Nebenhandlung nervten – entwickelt sich das Buch zum Positiven.
Kritisch sehe ich die explizite Darstellung von Gewalt, Sexualpraktiken und sexuellen Abhängigkeitsverhältnissen, die mir teilweise unangebracht erschienen. Vielleicht bin ich einfach zu prüde und es ist so, dass Padura die explizite Darstellung bewusst nutzt, um die Widersprüche und Grauzonen aufzuzeigen, in denen sich Moral und Sexualität oft bewegen. Auch der Eindruck, dass Frauen vor allem über Prostitution aus der Armut finden, wirkte auf mich arg klischeehaft. Als ob Frauen sich in ihre Freier verlieben würden – dieser Mythos hält sich hartnäckig in schreibenden Männerköpfen.

Insgesamt ist Anständige Leute ein politisch ambitionierter Roman, der zwar nicht immer literarisch überzeugt, aber durch seine Vielschichtigkeit und historische Tiefe einen perspektivenreichen Blick auf Kubas Gesellschaft bietet.

Ein Dank geht an den Unions-Verlag, der mir das Rezensionsexemplar kostenlos zur Verfügung stellt. Wenn Ihr meine Arbeit unterstützen möchtet, könnt Ihr dies gerne über eine einmalige oder regelmässige Spende tun. Vielen Dank! Jede Spende sichert meine finanzielle Unabhängigkeit.

1 So übersetzt Peter Kultzen den Refrain des Lieds «La Isla del delirio» (Spanisches Original: «Ay amor… la vida es un delirio. Ay amor… esta isla es un suicidio. Ay amor…») Ich hätte «suicidio» eher metaphorisch-untertreibend mit «Himmelfahrtskommando» übersetzt, aber es gibt wohl einen konkreten Vorfall, auf den sich die Aussage bezieht.

Der Zerfall linker Träume in Venezuela

Tobias Lamberts Buch Gescheiterte Utopie. Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez analysiert den Niedergang der venezolanischen Spielart des demokratischen Sozialismus und dessen Transformation in ein autoritäres Regime. Wer am 10. Januar 2025 gut informiert sein möchte – das ist der Tag, an dem sich der jetzige Präsident Nicolás Maduro gegen grosse Widerstände erneut vereidigen lassen will – sollte dieses Buch gelesen haben.

Worum geht es in dem Buch?

  1. Das von Hugo Chávez initiierte Projekt einer demokratischen und antikapitalistischen Transformation Venezuelas („bolivarische Revolution“) ist gescheitert.
  2. Die Regierung unter Nicolás Maduro hat sich zunehmend autoritär entwickelt, was sich in Wahlmanipulationen und Repression der bürgerlichen Opposition zeigt. Es gibt zudem keine nennenswerte Opposition aus linker Perspektive.
  3. Die anhaltende wirtschaftliche Krise des Landes wird auf mehrere Faktoren zurückgeführt:
    • Extraktivismus
    • Misswirtschaft und Korruption in staatlichen Betrieben
    • Vernachlässigung von Investitionen und technologischer Modernisierung
  4. Die enge Verflechtung von Militär und Regierung ist ein Garant für den Machterhalt auch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit.
  5. Zunächst kann Chávez weite Teile der ärmeren Bevölkerung für sich gewinnen.
  6. Lambert kritisiert die zunehmende Zentralisierung der Politik unter Chávez und später dann unter Maduro deutlich, die im Gegensatz zu den basisdemokratischen und partizipativen Initiativen der Anfangszeit des chavismo stehen.
  7. Gleichzeitig zeigt der Autor transparent auf, dass die Strukturen für Bürgerbeteiligung oft lediglich zur politischen Mobilisierung genutzt wurden, anstatt echte partizipative Wirtschaft zu fördern.

Lambert analysiert ausserdem in einem einführenden Kapitel ausführlich die Vorbedingungen der venezolanischen Politik, die den Erfolg von Hugo Chávez erst möglich gemacht haben. Dieser Erfolg resultierte aus der Unzufriedenheit mit einer de-facto Zweiparteienherrschaft, die nicht in der Lage war, die hohe Exposure des Landes vom Erdölexport zukunftsfähig abzumildern. So schreibt Lambert über die Wirtschaftspolitik Venezuelas seit 1936:

1936 formulierte der venezolanische Schriftsteller Arturo Uslar Peitri in einem Zeitschriftenartikel den Anspruch „das Erdöl zu säen“ („sembrar el petróleo“). Damit bezog er sich ursprünglich darauf, mithilfe der Petrodollar den Agrarsektor zu entwickeln. Als Slogan sollte fortan praktisch jede venezolanische Regierung das Ziel verfolgen, die Wirtschaft mithilfe der Eröleinnahmen zu diversifizieren. (S. 13)

Bewertung

Das Buch ist faktenreich geschrieben und gut dokumentiert. Es ist auch sehr aktuell, da es sogar die umstrittenen Wahlen von 2024 mit beinhaltet, deren Ergebnis weiterhin ungewiss ist, so dass derzeit zwei Kandidaten die Präsidentschaft Venezuelas beanspruchen: Nicolás Maduro sowie der Oppositionsführer Edmundo González, dem die Verhaftung droht, sollte er am 10. Januar venezolanischen Boden betreten wollen. Lambert verhehlt nicht die ursprünglichen Sympathien für die politischen und sozialen Reformen, die zunächst geplant waren, zeigt aber auch schonungslos auf, was unter Chávez und Maduro politisch und wirtschaftlich schief gelaufen ist.

Ich habe drei kleinere Kritikpunkte am Buch: 1. Der Text ist sehr informationsreich und erfordert eine hohe Konzentration bei der Lektüre. Ich hätte mir neben dem hilfreichen Glossar daher zusätzliche Visualisierungen gewünscht, vor allem für die zahlreichen statistischen Angaben sowie für Namen, Ereignisse, Parteien und Bewegungen, damit ich mich als Leserin besser orientieren kann. 2. Ich hätte mir eine kurze Analyse der venezolanischen Opposition im Ausland gewünscht, denn bis Ende 2023 haben 7.7 Millionen Menschen ihre Heimat Venezuela verlassen. Gibt es einen stärkeren Beleg für das Scheitern der Utopie? 3. Ich hätte mir zudem eine kritische Auseinandersetzung mit der Begeisterung von Teilen der europäischen Linken mit dem chavismo gewünscht (insbesondere auch die finanziellen Verstrickungen), aber das wäre vielleicht ein anderes Buch. Lambert geht es hier aber eindeutig um die venezolanische Binnenperspektive. Die schätzt der Autor derzeit als wenig optimistisch ein (S. 224).

Der desencanto der deutschen Linken mit Venezuela ist allein schon daran abzulesen, dass es seit dem Tod Chávez‘ – gemäss Lamberts Recherche – keine nennenswerten deutschsprachigen Publikationen mehr gab. Von daher ist ein Buch, wie das Lamberts, überfällig. Wer also zum Thema Venezuela mitreden möchte, ob aus journalistischer oder wissenschaftlicher Perspektive, kommt an Tobias Lambert nicht vorbei.

So geht Energiewende: das Beispiel Uruguay

Klar, Uruguay ist kein hochindustrialisiertes Land, das eine energieintensive chemische Industrie zufrieden stellen muss, noch gibt es eine nennenswerte metallerzeugende und -verarbeitende Industrie, die viel Energie braucht. Das südamerikanische Land ist in Europa vor allem für seine landwirtschaftliche Produktion bekannt. In der Tat bildet gefrorenes Rindfleisch das wichtigste Exportgut des Landes. Bereits jetzt produziert das Land Lebensmittel für 30 Millionen Menschen, z.B. Rindfleisch, Getreide, Reis und Soja – Tendenz steigend. Uruguay selbst hat 3.4 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen. Eine Mehrheit der Menschen in Uruguay ist im Dienstleistungsektor tätig. Dienstleistungen stellen 62 % des BIP.

Uruguay hat vor diesem Hintergrund in den letzen 10 Jahren eine überzeugende und konsistente Energiewende geschafft, die vielleicht nicht in allen industriellen Mappings übertragbar ist, aber vom politischen Framework und dem nationalen Willen zum Konsens eine überzeugende Transformation gezeigt hat, die für viele andere Länder Vorbild sein kann.

Darüber berichte ich in meinem aktuellen Newsletter. Die Energiewende ist mit einem Namen verbunden: Ramón Méndez Galain als verantwortlicher Programmverantwortlicher. Er hätte diese Transformation jedoch nicht geschafft, wenn er nicht die breite politische Rückendeckung gehabt hätte, die die Regierung unter Pepe Mujica und das tief verankerte Demokratieverständnis der uruguayischen Gesellschaft bereit stellten.

Der Mix macht`s – nicht nur energetisch, sondern auch von der Willensbildung her. Wäre das doch nur der politische Slogan für die Energiepolitik in unseren Breiten…

Hier geht es zum Newsletter: https://tertulia.substack.com/p/uruguays-energy-transition

Windkraftprojekte und Bevölkerungswachstum: Hornillos de Cerrato als Vorzeigeprojekt

Auf meinem Newsletter auf Substack berichte ich diese Woche über die kleine Gemeinde Hornillos de Cerrato in der nordspanischen autonomen Region Castilla y León. Dort hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten enorm viel getan. Erstmals konnte der negative Trend der Bevölkerungsentwicklung umgekehrt werden. Dank den Einkünften der Gemeinde aus den Windkraftprojekten auf ihrem Gebiet entwickelt sich allmählich wieder ein Gemeindeleben, das dem Wohlergehen der gesamten Bürgerschaft dient.

Wie sich Hornillos de Cerrato zum Vorzeigeprojekt entwickelt hat und was andere windreiche Gemeinden davon lernen, könnt Ihr in meinem aktuellen Newsletter nachlesen: https://tertulia.substack.com/p/hornillos-de-cerrato-harnessing-wind

Goldener Zankapfel: Kolumbien will den Quimbaya-Schatz zurück

In dieser Woche schreibe ich in meinem Newsletter über eine Sammlung prähispanischer Artefakte der Quimbaya-Zivilisation, die als Tesoro Quimbaya (Quimbaya-Schatz) bekannt ist. Das Museo de América in Madrid beherbergt einen Teil dieser schönen und ausserordentlich wertvollen Sammlung von Keramik- und Goldgegenständen.
Nach einer langen Kontroverse um die Restitution der Kunstgegenstände hat Kolumbien im Mai dieses Jahres die spanische Regierung förmlich um die Rückgabe der 122 Objekte gebeten. Die Geschichte, die sich hinter dieser Rückgabeforderung verbirgt, hat allerdings wenig mit den üblichen Geschichte von goldraubenden spanischen Eroberern zu tun, die den Ureinwohnern Amerikas alles nahmen, was sie besassen. Vielmehr handelt es sich um eine Herkunftsgeschichte, die so abenteuerlich klingt, als hätte sie sich Gabriel García Márquez ausgedacht.

Was es mit dem Schatz von Quimbaya auf sich hat und wie dieser nach Spanien kam, könnt Ihr hier nachlesen.

El Palacio de las Cortes es un edificio en Madrid donde se reúne el Congreso de los Diputados.

Eine wegweisende Abstimmung?

Am 18. Januar 2024 hat das spanische Abgeordnetenhaus entschieden, das Wort „disminuidos“ aus der Verfassung zu streichen. Behindertenverbände haben dies gefordert. Die Abstimmung kann nicht nur als wichtiger Erfolg der Verbände gedeutet werden, sondern vielleicht auch als ein erster Schritt, in entscheidenden Themen einen politischen Konsens der demokratischen Parteien zu finden.

Die Forderung einer sprachlichen Anpassung der spanischen Verfassung

Seit vielen Jahren forderten die Verbände, die sich für die Rechte von Personen mit Behinderungen einsetzen, dass der Artikel 49 der spanischen Verfassung an die international gängige Terminologie zur Bezeichnung von Menschen mit Behinderung angepasst werden müsse. Der Artikel 49 der spanischen Verfassung lautete bisher:

Los poderes públicos realizaran una política de previsión, tratamiento, rehabilitación e integración de los disminuidos físicos, sensoriales y psíquicos, a los que prestarán la atención especializada que requieran y los ampararán especialmente para el disfrute de los derechos que este Título otorga a todos los ciudadanos.

Agencia Estatal Boletín Oficial del Estado, BOE, Constitución Española (versión en castellano), 1078
https://www.boe.es/legislacion/documentos/ConstitucionCASTELLANO.pdf (Stand 19.01.24)

Der Begriff „disminuidos“ wurde von Betroffenen als diskriminierend empfunden, denn „disminuido“ kann zwar auch mit „behindert“ übersetzt werden, enthält aber auch die Assoziation des „weniger wert sein“. Die katalanische Vertreterin des Comité catalán de representantes de personas con discapacitat (Cocarmi), Mercè Battle erläutert die negative Bedeutung folgendermaßen:

„Subnormal, disminuido, minusválido… son palabras con connotación negativa, ofensiva, pero es que además sitúan a la persona afectada en inferioridad de condiciones. Es el ‚ay pobrecitos‘ de toda la vida“

Elisenda Colell, ¿Por qué hay que desterrar la palabra ‚disminuido‘ para hablar de discapacidad?, El Periódico, 06.12.22 (aktualisiert am 17.1.24) https://www.elperiodico.com/es/sociedad/20221206/usar-disminuido-constitucion-discapacidad-79627789 (Stand 19.01.24)

Aus diesem Grund hatte die Real Academia de la Lengua Española das Wort in der Bedeutung von „behindert“ bereits 2020 aus ihrem Wörterbuch gestrichen und durch „discapacitado“ ersetzt. Dieser Vorschlag entsprach noch nicht vollständig den Forderungen des Comité Español de Representantes de Personas con Discapacidad (CERMI). Dem Komitee war es nämlich wichtig, zu betonen, dass die Bezeichnung ‚discapacitado‘ auch nicht ideal sei, da die Bezeichnung einer Person mit einem Adjektiv so klinge, als ob die Behinderung die massgeblich bestimmende Eigenschaft dieser Person sei. Wer als „discapacitado“ bezeichnet wird, ist eben in erster Linie behindert. Stattdessen schlug das Komitee vor, dass mit der Bezeichnung die Wertschätzung der individuellen Lebenslage einer Person anzuerkennen sei. In der Vergangenheit wurde Menschen mit Behinderungen oft der Status als vollwertige Personen abgesprochen. Daher empfahl das Komitee, besser den Begriff „personas con discapacidad“ zu verwenden, um zu zeigen, dass die Behinderung nur eine Facette der Persönlichkeit sei und nicht die gesamte Persönlichkeit der Behinderung untergeordnet werde.

Der politische Vollzug der Verfassungsänderung

Dieser Schritt ist nun endlich mit Blick auf die spanische Verfassung gelungen. Im Abgeordnetenhaus stimmten 312 Abgeordnete dafür, dass der Begriff „disminuido“ im Verfassungstext durch „personas con discapacidad“ ersetzt wird. Nur die Abgeordneten der rechtsextremen Partei VOX stimmten mit „Nein.“ Nun muss noch der Senat zustimmen, was als Formsache gilt, damit der Artikel 49 der spanischen Verfassung angepasst werden kann.

Die symbolische Dimension der Abstimmung

Was zunächst nach einem rein sprachlichen Entgegenkommen gegenüber 4 Millionen Spaniern und Spanierinnnen klingt, kann möglicherweise auch als eine Entscheidung mit symbolischer politischer Bedeutung gedeutet werden. Erstmals kam es zu einem grossen Konsens von PSOE und PP, die gemeinsam für das Streichen des Begriffs aus der Verfassung stimmten.

Wie erwähnt, stimmte VOX mit „Nein“, was die Partei damit rechtfertigte, dass sie keinen Vorschlag der derzeitigen Regierung annehmen könne, da sie diese als illegal ansehe (Sánchez hat aus einer Position der Minderheit eine regierungsfähige Koalition formiert, was verfassungskonform ist, aber von VOX anders gesehen wird). Für mich ist dieses Abstimmungsverhalten ein klares Zeichen, dass es VOX nicht um inhaltliche Sachthemen geht, sondern um ein fundamentales Dagegen. Sie profitieren nur von Polarisierung, der Konsens schwächt ihre Position. Derzeit ist die Polarisierung in Spaniens Politik so stark – in meinem letzten Beitrag schrieb ich darüber – dass es für die extremen Parteien aus taktischen Gründen keinen Konsens zwischen den oppositionellen Parteien im Kongress geben darf. Eine konsensorientierte Politik könnte den Extremen also umgekehrt auch den Wind aus den Segeln nehmen. Ein Treffen zwischen Ministerpräsident Sánchez und PP-Führer Feijóo sorgte dafür, dass es bei diesem Thema eine gemeinsame Haltung der beiden grossen Parteien geben würde. Das Treffen der beiden wurde in der spanischen Presse häufig erwähnt, was ich so interpretiere, dass diese erste gemeinsame Abstimmung möglicherweise als ein erster Schritt zur Zusammenarbeit bei weiteren Themen gehandelt werden kann. So lud denn auch Sánchez in seiner Ansprache am Abstimmungstag die Opposition zur weiteren konstruktiven Zusammenarbeit ein. Mögen denn neben vielen anderen sozialen Themen zukünftig auch Programme dazu gehören, die den Menschen mit Behinderung nicht nur sprachlich entgegenkommen, sondern ihre besonderen Bedürfnisse materiell anerkennen.