Titelblätter spanischer Tageszeitungen zum Tod von Francisco Franco

Franco, der ewige Faschist

Am 20. November jährt sich der Todestag Francisco Francos zum 50. Mal. Anlässlich dieses Datums stelle ich Euch in meinem heutigen Artikel die Biografie Franco. Der ewige Faschist des Bildungsforschers Till Kössler vor. Diese richtet sich explizit an ein deutschsprachiges Publikum.

Im Sommer ließ mich die Unterhaltung mit einer spanischen Bekannten über die derzeitige Polarisierung des politischen Diskurses im Land perplex zurück. Beiläufig bemerkte sie, dass Franco zwar als Diktator regiert habe. Doch er wäre vielleicht in der damaligen Zeit das Beste für Spanien gewesen. Noch verstörter war ich, als ich eben diese Meinung in Till Kösslers aktueller Biografie des spanischen Diktators wiederfand. Dieses Mal stammt diese Einschätzung nicht aus dem Mund einer konservativen Spanierin, sondern einer überzeugten deutschen Liberalen. Kössler zitiert die ehemalige Herausgeberin der ZEIT, Marion Gäfin Dönhoff nach einem Besuch in Madrid im Jahr 1950, die die Politik Francos als „höchstinteressantes Experiment“ und „Kompromiß zwischen Autorität und Freiheit“ bezeichnet, welches „sich vielleicht in keinem anderen Lande halten könnte und das doch für Spanien, die Spanier und ihre heutige Lage offenbar das einzig adäquate ist.“ (zitiert nach Kössler, 2025, S.228).

Zielsetzung und These

Till Kössler, Erziehungswissenschaftler und Historiker an der Universität Köln, geht akribisch diesen widersprüchlichen Auslegungen der franquistischen Diktatur nach. War Franco ein brutaler Gewaltherrscher? Oder ging er den für Spanien einzig machbaren Weg, für den er im Land bis heute Zustimmung findet? Kösslers Ziel ist es, aufzuzeigen, dass Franco während seiner gesamten Regierungszeit eine faschistische Symbolsprache und Großmachtfantasien beibehielt, die zu brutaler Repression Andersdenkender führten. Bis zuletzt blieb sein Weltbild von verschwörungstheoretischen Mythen und einem rückwärts gewandten Anti-Amerikanismus und Anti-Liberalismus geprägt. Typisch für seine autoritär-diktatorische Regierungsführung sind auch die Schilderungen einer allgegenwärtigen Korruption, mit der Franco die eigene Macht verfestigte (s. S. 272f.).

Fokus auf sozialen und kulturellen Kontexten

Entlang der Zäsuren der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts will Kössler seine These aus dem Titel belegen. Der Verlust der letzten Kolonien Spaniens war ein markanter Einschnitt. Auch der militärische Einsatz im Protektorat Marokko, der Sturz der Monarchie und der brutale Bürgerkrieg prägten ihn. Diese Ereignisse formten seine Identifikation als Militär und antidemokratischer Monarchist. Kössler zeigt auch, dass die vermeintliche Öffnung nach dem Zweiten Weltkrieg aus pragmatischen Gründen erfolgte. Franco konnte sich ideologisch nie mit dieser wirtschaftlichen Öffnung anfreunden. Franco regierte mit harter Hand in einem Land, das sich in Sieger und Besiegte spaltete, auch als er längst die Uniform gegen einen zivilen Anzug ausgetauscht und der europäische Massentourismus die spanischen Strände entdeckt hatte (S. 261).

Dabei wählt Kössler bewusst keinen persönlichkeitszentrierten Zugang (das haben andere bereits getan). Ihm geht es um etwas anderes, in seinen eigenen Worten:

Das vorliegende Buch wählt einen anderen Zugang. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die sozialen und kulturellen Kräfte und Kontexte, die Francos Handeln prägten, seinen Aufstieg ermöglichten und sein Wirken als Diktator bestimmten. Anstatt über Charaktereigenschaften des spanischen Diktators zu streiten, erscheint es ergiebiger,ihn in gesellschaftlichen und kulturellen Milieus und Institutionen zu verorten, vor allem dem Militär, und die politischen Netzwerke zu betrachten, denen er zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens angehörte. (S. 15)

Bewertung und Relevanz

Kössler wendet sich mit seiner Monografie an ein breites deutschsprachiges Publikum. Er schreibt stets verständlich und macht die Bezüge zur deutschen Politik transparent. Sehr gut gefallen mir die detaillierten Übersichten: eine Zeittafel, eine Karte mit den Hauptstationen im Leben Francos, die umfassende Auswahlbibliografie und ein ausführlicher Index. Der Autor richtet sich ausdrücklich nicht an ein akademisches Publikum, arbeitet dennoch stets wissenschaftlich solide. Teilweise wird trotz des populärwissenschaftlichen Ansatzes viel von der Leserschaft erwartet, z.B. wenn es um das Kontextwissen bestimmter Ereignisse und Prozesse geht (etwa Spaniens Rolle in Marokko oder die Definition und Erkennungsmerkmale faschistischer Ideologie). Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass Kössler bestimmte Vertreter der Franco-Forschung häufiger namentlich einbringt, um den historischen Diskurs um die Auslegung der Rolle Francos transparenter zu machen. Häufig unterscheidet er lediglich wohlwollende und kritische Forschende. Das erleichtert zwar den Lesefluss, erschwert aber die weitergehende Einordnung von Kösslers Argumentationslogik.

Kössler stützt sich insgesamt auf zahlreiche Originalquellen, wobei die Aufzeichnungen von Francos Cousin Francisco Franco Salgado-Araujo eine zentrale Rolle spielen. Salgado war über viele Jahrzehnte Francos Privatsekretär, in Francos monarchisch-autoritärem Sprachgebrauch sein Kammerdiener („ayuda de cámara“). Ich hätte mir darüber hinaus noch mehr direkte O-Töne Francos gewünscht. Dadurch hätte ich einen unmittelbareren Einblick in seine Rhetorik erhalten. So könnten faschistische Elemente besser erkannt und benannt werden. Die Bedeutung von Salgados Aufzeichnungen soll dies nicht schmälern.

Im Jahr 2025 ist wieder von autoritären und faschistoiden Tendenzen in der Politik die Rede. Diese Tendenzen drängen sich laut und lärmend in die politische Praxis. Gerade in Spanien selbst haben zahlreiche revisionistische Kräfte die positive Geschichte vom väterlichen Diktator wiederbelebt, wie Julia Macher erst kürzlich zeigte. Kösslers Buch bietet daher nicht nur einen historischen Einblick, wie ein autoritärer Staat entstanden ist. In diesem Sinne ist es auch eine Einladung an Demokraten und Demokratinnen, das dazu aufruft, das Entstehen eines solchen Staates zu erkennen und zu verhindern. Eine empfehlenswerte, lehrreiche Lektüre.

Container von RTVE am Filmfestival in San Sebastián

Rückblick auf das 73. Internationale Filmfestival in San Sebastián

Das 73. San Sebastián International Film Festival (SSIFF) bot dieses Jahr eine gute Auswahl an Filmen. Ich hatte den Eindruck, hier wird Kino für das Publikum gemacht, nicht nur für andere Filmleute. Die US-amerikanischen Celebrities, die mich sowieso weniger interessierten, hinterliessen wohl einen eher flüchtigen Eindruck.

Von den insgesamt elf Filmen, für die wir Tickets bekamen, waren zehn Neuerscheinungen aus dem aktuellen Jahr. Bis auf Franz haben wir ausschliesslich spanische und lateinamerikanische Filme angeschaut (wobei einige davon internationale Koproduktionen waren). Außerdem haben wir uns zum Abschluss am Samstagabend noch den mexikanischen Klassiker El callejón de los milagros (1995) in der Tabakalera gegönnt. Absolut empfehlenswert, mit Salma Hayek in ihrer ersten großen Rolle.

Hier sind nun meine drei Favoriten:

Un poeta, von Simón Mesa Soto

Un Poeta von Simón Mesa Soto ist ein kolumbianischer Film, der tief in die Seele von Medellín eintaucht. Der Film erzählt die Geschichte des Dichters Óscar Restrepo, dessen Leben von Liebe, Verlust und dem Kampf um künstlerische Anerkennung geprägt ist. Nach ersten Anfangserfolgen bleiben Inspiration und dichterische Produktivität auf der Strecke. Seine Schwester bringt’s auf den Punkt: «Du bist arbeitslos.»

Im Privaten bemüht sich Óscar um die Beziehung zu seiner Tochter, die bei der Mutter lebt. Beide Eltern sind schon lange getrennt. Der Dichter lebt bei seiner alten Mutter, die ihn herumkommandiert und ihm aber auch immer wieder das notwendige Geld zusteckt. Neue Hoffnung erfährt er durch seine talentierte Schülerin Yurlady, nachdem er sich auf Druck seiner Schwester als Lehrer einstellen lässt. Yurlady hat jedoch andere Pläne und will ein bescheidenes, aber sicheres Leben führen, anstatt Dichterin zu werden.

Der Film besticht durch seine authentische Darstellung des soziokulturellen Lebens in Medellín und seine humanistische Haltung. Mesa Sotos Blick ist oft satirisch und humorvoll, aber nie zynisch. Mir hat vor allem auch der kritische Blick auf mögliche Geldgeber für künstlerische Projekte gefallen: Welche Themen werden von Stiftungen und internationalen Fördervereinigungen nachgefragt? Wie sehr muss sich eine Künstlerin, in diesem Fall Yurlady, verbiegen, damit sie ihr Werk präsentieren darf? Wo bleibt dabei die Autonomie der Kunst? Jeder, der schon einmal einen Antrag bei einer Stiftung eingereicht hat, kennt dieses Thema.

Eloy de la Iglesia – adicto al cine, von
Gaizka Urresti 

Eloy de la Iglesia – adicto al cine ist eine Hommage auf den Filmregisseur Eloy Germán de la Iglesia Diéguez (1944-2006). Er gilt als eine der relevantesten Stimmen des spanischen Kinos der Transición. Der Dokumentarfilm bietet einen temporeichen Einblick in das Schaffen eines Regisseurs, der in Spanien sehr populär war, im Ausland jedoch wenig bekannt wurde. Die Doku zeigt seine Schaffenskraft, seine offen ausgelebte Homosexualität, die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Spaniens sowie die Existenzkrise, die seine Heroinabhängigkeit mit sich brachte. Der Film ist eine ausgezeichnete Einführung in das Werk von Eloy de la Iglesia und regt an, mehr von seinen Filmen zu entdecken. Ich muss aber zugeben, dass mich die Darstellung seines Person und seiner überbordenden künstlerischen Energie mehr als die in der Doku präsentierten Filme ansprachen. Viele davon schienen mir zu gewalttätig und pornographisch. Das ist nicht mein Ding. Am ehesten würde ich mir noch die Filme El diputado und El sacerdote anschauen.

In dem nachfolgenden Interview spricht Gaizka Urresti über seine Motivation für die Dokumentation:

Ciudad sin sueño, von Guillermo Galoe

Ciudad sin sueño von Guillermo Galoe ist ein Film, der die Lebensrealität der Gitanos und weiterer marginalisierter Gruppen in der Agglomeration von Madrid zeigt. Der Film folgt zwei Teenagern, Toni und Bilal, deren Familien in Wellblechhütten und unter extrem schwierigen Bedingungen in der «Cañada Real» leben. Da Madrid aufgrund seines dynamischen Wachstums mehr Bauland braucht, ist die informelle Siedlung im Südosten der Hauptstadt sehr interessant für die Immobilienbranche geworden. Die Menschen, die dort leben, sollen umgesiedelt werden. Bilals Familie zieht deshalb zu Verwandten nach Marseille, was Toni sehr zu schaffen macht. Er fühlt sich alleine gelassen. Obwohl die Zustände furchtbar sind – es gibt weder Strom noch Wasser, die Kriminalität ist hoch – widersetzt sich Tonis Großvater einem Umzug, weil er nur in dieser Umgebung seine Freiheit bewahren kann. Manu Yáñez deutet diese Haltung des Großvaters als heroischen Akt des Widerstands gegen den ungezähmten Kapitalismus der heutigen Zeit. Ich stimme nicht mit dieser Einschätzung überein. Ja, der dominante «Pai» und seine Frau bleiben, aber die jüngere Generation wird gehen und dem widersetzt sich der Alte auch nicht. Für mich signalisiert sein trotziges Bleiben daher eher einen nostalgischen Moment, die Welt der «Cañada Real» hat keine Zukunft mehr. Die Jungen müssen, wenn auch widerstrebend, einen neuen Weg finden.

Die Perspektive der Jugendlichen wird durch eine dynamische Kameraführung und Selfie-Aufnahmen mit aufregenden Farbfiltern eingefangen. Besonders beeindruckend sind die beiden jugendlichen Darsteller, die ihre Rollen mit großer Authentizität spielen. Diese Augen! Der Film lässt das Publikum stets selbst entscheiden, ohne moralisierend zu wirken, und zeigt, wie Toni und seine Familie ihren Weg finden müssen.

Wer sich nicht vorstellen kann, dass Menschen mitten in Europa unter derart miserablen Bedingungen leben, kann sich einen Eindruck vom aufreibenden Alltag in diesem Slum machen: https://www.zdf.de/play/dokus/arte-collection-arte-rc-000000-8-100/page-video-arte-re-europas-groesster-slum—die-caada-real-in-madrid-100

Und hier ist der Trailer zum Film:

Fazit

Die Auswahl der Filme, die wir besuchten, hing stark von der Verfügbarkeit der Tickets und den Spielzeiten ab. Wir konnten beispielsweise den Siegerfilm des Festivals, Los domingos, nicht sehen, da die Tickets bereits ausverkauft waren, als wir noch auf dem Camino irgendwo zwischen Logroño und Nájera unterwegs waren (darüber mehr in einem späteren Post). Dennoch war alles in allem der Kauf der Tickets stressfrei, denn jeden Tag kamen nochmals Resttickets in den Verkauf. Die Organisation des Festivals erschien uns perfekt. Nur manches Mal gingen wir eben leer aus, vor allem bei den spanischen Produktionen, die nur eine Aufführung hatten (wie beispielsweise die Doku über Almudena Grandes, die ich sehr gern gesehen hätte). Da ich das erste Mal beim Filmfestival dabei war, kann ich auch keine qualitativen Vergleiche zu den Vorjahren ziehen. So ist also die Auswahl und Bewertung höchst subjektiv.

Insgesamt war das Festival eine bereichernde Erfahrung, die einen guten Einblick in die spanische Filmlandschaft und aktuelle gesellschaftliche Themen geboten hat. Die Spielstätten waren von unserer Wohnung alle über einen Spaziergang entlang der Concha zu erreichen. Überhaupt kann man in San Sebastián fast alles zu Fuss erreichen, ähnlich wie in Locarno. Es gibt zudem, anders als zum Beispiel in Berlin, jederzeit und überall Kneipen und Restaurants, die zwar sehr gut gefüllt sind, in denen man dennoch nach den Veranstaltungen noch ein Plätzchen findet, um das Gesehene zu besprechen. Wir fahren gerne wieder hin.

Joaquin Sorolla Portrait des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset

Ortega y Gassets Kunstkritik wird 100 Jahre alt.

José Ortega y Gasset’s schrieb sein Essay «La deshumanización del arte» vor 100 Jahren. Ursprünglich in der Revista de Occidente veröffentlicht, analysiert Ortega y Gasset die Entstehung der avantgardistischen Kunstbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts. Er argumentiert, dass diese neue Kunstform sich bewusst von traditionellen Darstellungen und menschlichen Emotionen entfernt und stattdessen Abstraktion, Ironie und Intellektualität betont. Diese Dehumanisierung führt dazu, dass Kunst nicht mehr für das breite Publikum geschaffen wird, sondern zu einer spezialisierten, oft elitistischen Beschäftigung für Künstler wird.

Mein letzter Newsletter auf Substack stellt den Essay etwas genauer vor und zeigt, weshalb er bis heute als wichtiger Bestandteil der spanischen Ideengeschichte analysiert und diskutiert wird. Hier könnt Ihr in nachlesen: https://tertulia.substack.com/p/marking-the-centenary-of-ortega-y

Und hier könnt Ihr den Originaltext lesen:

Spanisches Frühstück mit Tomaten, Gazpacho, Brötli, Rüebli und Käse

Mein Sommer im grünen Norden Spaniens

In Zürich liegt der erste Schnee. Zeit, endlich meine Fotos vom Sommer nochmals anzuschauen und das laufende Reisetagebuch zu aktualisieren. Auf meinem aktuellen Newsletter findet Ihr meinen Rückblick in englischer Sprache – mit vielen Fotos. Kommt mit nach Donostia, Olite und Bilbao. Hier geht’s zum Reisetagebuch: https://tertulia.substack.com/p/exploring-the-basque-country

PS: Wir waren auch noch in Hendaye, Hondarribia, Pamplona und Gernika, um auch ohne Wandern möglichst nah am Camino del Norte zu bleiben; aber dazu vielleicht später einmal mehr…

Neuer Spanien-Podcast: Sangría – und sonst?

Heute möchte ich Euch einen brandneuen Podcast vorstellen, in dem monatlich Themen präsentiert werden sollen, die Spanien beschäftigen. Er heisst Sangría – und sonst?

Moderiert und gestaltet wird der Podcast von zwei Journalistinnen: Julia Macher berichtet aus Barcelona, Antonia Schäfer aus Madrid. Bereits die erste Episode zeigt, dass diese Verortung nicht bedeutet, dass sich die beiden Podcasterinnen auf die beiden Metropolen beschränken, sondern auch aus anderen spanischen Regionen berichten, die thematisch jeweils relevant sind. Julia Macher ist seit vielen Jahren als freie Journalistin tätig und arbeitet u.a. für die Wochenzeitung die ZEIT oder auch für den Deutschlandfunk und die Blätter für deutsche und internationale Politik. Antonia Schäfer ist ebenfalls als freie Journalistin tätig und arbeitet ebenfalls für die ZEIT, Die Deutsche Welle und den Spiegel. Während ich Julia Macher vor allem dafür schätze, dass sie immer wieder spannende Themen aus der vermeintlichen spanischen Provinz für ein deutsches Publikum aufbereitet, kannte ich Antonia Schäfer bisher vor allem durch ihre Videobeiträge aus Kolumbien, von wo sie 2 Jahre berichtet hat.

Cover des Spanienpodcasts mit Porträts der beiden Journalistinnen Julia Macher und Antonia Schäfer, das Copyright liegt bei den beiden Autorinnen.

Gute persönliche, kulturelle und fachliche Voraussetzungen also für einen inhaltlich wertvollen Podcast, der nicht nur Klischees bedienen will. Die erste Episode hat mich überzeugt. Es geht um Overtourism in Spanien und wie Spanien in verschiedenen Regionen – im Mittelpunkt des Podcasts stehen Barcelona, Mallorca und Teneriffa – mit diesem umgeht. Die beiden stützen ihre differenzierten Aussagen auf Interviews, die sie im Rahmen ihrer Aufträge führen/geführt haben. Es geht also weniger um die eigene Einschätzung, sondern um die Vermittlung der spanischen Wahrnehmung des Themas. Die beiden wechseln sich gut ab und führen das Gespräch fragegeleitet.
Der Podcast ist technisch sehr solide produziert und kommt glücklicherweise auch ohne den inzwischen vielfach üblichen Podcast-Schnickschnack (z.B. unterlegte Musik, Werbeunterbrechungen, Jingles und andere hektische Audio-Einsprengsel) aus, der mich so nervt. Zumindest bei der ersten Episode bleiben sie unter einer Stunde Laufzeit, was ich auch sehr angenehm finde.

Einen Punkt würde ich anders machen: Es könnte mehr O-Töne geben, die dann in deutscher Sprache kurz zusammengefasst werden. Ich bin überzeugt, dass viele Spanien-begeisterte Hörerinnen und Hörer dieses Podcasts des Spanischen so weit mächtig sind, dass sie grob folgen können bzw. durch die Zusammenfassung erfahren, wie viel sie verstanden haben 😎. Rieke Havertz und Klaus Brinkbäumer machen das in ihrem Podcast Okay, America? beispielsweise sehr gut, indem sie immer wieder an zentralen Stellen englische O-Töne bringen, die sie dann in deutscher Sprache zusammenfassend wiedergeben.

Ich jedenfalls wünsche dem Podcast viel Erfolg und ein langes Leben und freue mich auf die nächste Episode. Ich finde es toll, dass regelmässig aus Spanien über Spanien berichtet wird.

Hier geht es zur Homepage des Podcasts: https://sangria-und-sonst-der-spanien-podcast.simplecast.com

Windkraftprojekte und Bevölkerungswachstum: Hornillos de Cerrato als Vorzeigeprojekt

Auf meinem Newsletter auf Substack berichte ich diese Woche über die kleine Gemeinde Hornillos de Cerrato in der nordspanischen autonomen Region Castilla y León. Dort hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten enorm viel getan. Erstmals konnte der negative Trend der Bevölkerungsentwicklung umgekehrt werden. Dank den Einkünften der Gemeinde aus den Windkraftprojekten auf ihrem Gebiet entwickelt sich allmählich wieder ein Gemeindeleben, das dem Wohlergehen der gesamten Bürgerschaft dient.

Wie sich Hornillos de Cerrato zum Vorzeigeprojekt entwickelt hat und was andere windreiche Gemeinden davon lernen, könnt Ihr in meinem aktuellen Newsletter nachlesen: https://tertulia.substack.com/p/hornillos-de-cerrato-harnessing-wind

Goldener Zankapfel: Kolumbien will den Quimbaya-Schatz zurück

In dieser Woche schreibe ich in meinem Newsletter über eine Sammlung prähispanischer Artefakte der Quimbaya-Zivilisation, die als Tesoro Quimbaya (Quimbaya-Schatz) bekannt ist. Das Museo de América in Madrid beherbergt einen Teil dieser schönen und ausserordentlich wertvollen Sammlung von Keramik- und Goldgegenständen.
Nach einer langen Kontroverse um die Restitution der Kunstgegenstände hat Kolumbien im Mai dieses Jahres die spanische Regierung förmlich um die Rückgabe der 122 Objekte gebeten. Die Geschichte, die sich hinter dieser Rückgabeforderung verbirgt, hat allerdings wenig mit den üblichen Geschichte von goldraubenden spanischen Eroberern zu tun, die den Ureinwohnern Amerikas alles nahmen, was sie besassen. Vielmehr handelt es sich um eine Herkunftsgeschichte, die so abenteuerlich klingt, als hätte sie sich Gabriel García Márquez ausgedacht.

Was es mit dem Schatz von Quimbaya auf sich hat und wie dieser nach Spanien kam, könnt Ihr hier nachlesen.

Verano azul im April

Im April war ich für eine gute Woche in Nerja, einem Küstenort etwa 60 km östlich von Málaga. Ich habe mich am Mittelmeer sehr gut erholt und vieles unternommen. Die Temperaturen waren angenehm und der Jahreszeit angemessen. An zwei Tagen trübte der Sandwind Calima etwas die Sicht, vor allem am Morgen. Anders als die nördlicheren Provinzen Spaniens blieben wir allerdings von Schlammregen verschont.

Gewohnt haben wir im Parador, der auf einer Klippe direkt über der Playa Burriana (s. Foto) thront. Die Gartenanlage ist wunderschön und ein Paradies für Vögel.

Die Highlights des Aufenthalts könnt Ihr in meinem Newsletter nachlesen: die Wanderung nach Frigiliana, ein Sonntagskonzert in der Kapelle an der Plaza de la Ermita und unser Ausflug zum Museo Carmen Thyssen in Málaga.

Blue summer in April by Barbara Bohr 🦙

Tertulia, vol. 58

Read on Substack
https://substack.com/embedjs/embed.js
El Palacio de las Cortes es un edificio en Madrid donde se reúne el Congreso de los Diputados.

Eine wegweisende Abstimmung?

Am 18. Januar 2024 hat das spanische Abgeordnetenhaus entschieden, das Wort „disminuidos“ aus der Verfassung zu streichen. Behindertenverbände haben dies gefordert. Die Abstimmung kann nicht nur als wichtiger Erfolg der Verbände gedeutet werden, sondern vielleicht auch als ein erster Schritt, in entscheidenden Themen einen politischen Konsens der demokratischen Parteien zu finden.

Die Forderung einer sprachlichen Anpassung der spanischen Verfassung

Seit vielen Jahren forderten die Verbände, die sich für die Rechte von Personen mit Behinderungen einsetzen, dass der Artikel 49 der spanischen Verfassung an die international gängige Terminologie zur Bezeichnung von Menschen mit Behinderung angepasst werden müsse. Der Artikel 49 der spanischen Verfassung lautete bisher:

Los poderes públicos realizaran una política de previsión, tratamiento, rehabilitación e integración de los disminuidos físicos, sensoriales y psíquicos, a los que prestarán la atención especializada que requieran y los ampararán especialmente para el disfrute de los derechos que este Título otorga a todos los ciudadanos.

Agencia Estatal Boletín Oficial del Estado, BOE, Constitución Española (versión en castellano), 1078
https://www.boe.es/legislacion/documentos/ConstitucionCASTELLANO.pdf (Stand 19.01.24)

Der Begriff „disminuidos“ wurde von Betroffenen als diskriminierend empfunden, denn „disminuido“ kann zwar auch mit „behindert“ übersetzt werden, enthält aber auch die Assoziation des „weniger wert sein“. Die katalanische Vertreterin des Comité catalán de representantes de personas con discapacitat (Cocarmi), Mercè Battle erläutert die negative Bedeutung folgendermaßen:

„Subnormal, disminuido, minusválido… son palabras con connotación negativa, ofensiva, pero es que además sitúan a la persona afectada en inferioridad de condiciones. Es el ‚ay pobrecitos‘ de toda la vida“

Elisenda Colell, ¿Por qué hay que desterrar la palabra ‚disminuido‘ para hablar de discapacidad?, El Periódico, 06.12.22 (aktualisiert am 17.1.24) https://www.elperiodico.com/es/sociedad/20221206/usar-disminuido-constitucion-discapacidad-79627789 (Stand 19.01.24)

Aus diesem Grund hatte die Real Academia de la Lengua Española das Wort in der Bedeutung von „behindert“ bereits 2020 aus ihrem Wörterbuch gestrichen und durch „discapacitado“ ersetzt. Dieser Vorschlag entsprach noch nicht vollständig den Forderungen des Comité Español de Representantes de Personas con Discapacidad (CERMI). Dem Komitee war es nämlich wichtig, zu betonen, dass die Bezeichnung ‚discapacitado‘ auch nicht ideal sei, da die Bezeichnung einer Person mit einem Adjektiv so klinge, als ob die Behinderung die massgeblich bestimmende Eigenschaft dieser Person sei. Wer als „discapacitado“ bezeichnet wird, ist eben in erster Linie behindert. Stattdessen schlug das Komitee vor, dass mit der Bezeichnung die Wertschätzung der individuellen Lebenslage einer Person anzuerkennen sei. In der Vergangenheit wurde Menschen mit Behinderungen oft der Status als vollwertige Personen abgesprochen. Daher empfahl das Komitee, besser den Begriff „personas con discapacidad“ zu verwenden, um zu zeigen, dass die Behinderung nur eine Facette der Persönlichkeit sei und nicht die gesamte Persönlichkeit der Behinderung untergeordnet werde.

Der politische Vollzug der Verfassungsänderung

Dieser Schritt ist nun endlich mit Blick auf die spanische Verfassung gelungen. Im Abgeordnetenhaus stimmten 312 Abgeordnete dafür, dass der Begriff „disminuido“ im Verfassungstext durch „personas con discapacidad“ ersetzt wird. Nur die Abgeordneten der rechtsextremen Partei VOX stimmten mit „Nein.“ Nun muss noch der Senat zustimmen, was als Formsache gilt, damit der Artikel 49 der spanischen Verfassung angepasst werden kann.

Die symbolische Dimension der Abstimmung

Was zunächst nach einem rein sprachlichen Entgegenkommen gegenüber 4 Millionen Spaniern und Spanierinnnen klingt, kann möglicherweise auch als eine Entscheidung mit symbolischer politischer Bedeutung gedeutet werden. Erstmals kam es zu einem grossen Konsens von PSOE und PP, die gemeinsam für das Streichen des Begriffs aus der Verfassung stimmten.

Wie erwähnt, stimmte VOX mit „Nein“, was die Partei damit rechtfertigte, dass sie keinen Vorschlag der derzeitigen Regierung annehmen könne, da sie diese als illegal ansehe (Sánchez hat aus einer Position der Minderheit eine regierungsfähige Koalition formiert, was verfassungskonform ist, aber von VOX anders gesehen wird). Für mich ist dieses Abstimmungsverhalten ein klares Zeichen, dass es VOX nicht um inhaltliche Sachthemen geht, sondern um ein fundamentales Dagegen. Sie profitieren nur von Polarisierung, der Konsens schwächt ihre Position. Derzeit ist die Polarisierung in Spaniens Politik so stark – in meinem letzten Beitrag schrieb ich darüber – dass es für die extremen Parteien aus taktischen Gründen keinen Konsens zwischen den oppositionellen Parteien im Kongress geben darf. Eine konsensorientierte Politik könnte den Extremen also umgekehrt auch den Wind aus den Segeln nehmen. Ein Treffen zwischen Ministerpräsident Sánchez und PP-Führer Feijóo sorgte dafür, dass es bei diesem Thema eine gemeinsame Haltung der beiden grossen Parteien geben würde. Das Treffen der beiden wurde in der spanischen Presse häufig erwähnt, was ich so interpretiere, dass diese erste gemeinsame Abstimmung möglicherweise als ein erster Schritt zur Zusammenarbeit bei weiteren Themen gehandelt werden kann. So lud denn auch Sánchez in seiner Ansprache am Abstimmungstag die Opposition zur weiteren konstruktiven Zusammenarbeit ein. Mögen denn neben vielen anderen sozialen Themen zukünftig auch Programme dazu gehören, die den Menschen mit Behinderung nicht nur sprachlich entgegenkommen, sondern ihre besonderen Bedürfnisse materiell anerkennen.