Auf diesem Blog habe ich bereits häufiger über die sefardische Kultur und Ladino als Sprache der sefardischen Diaspora berichtet, z.B. hier, hier oder hier. In meinem aktuellen Newsletter auf Substack gibt es nun ein Update mit Neuigkeiten aus dem kulturellen Umfeld des sefardischen Judentums. Es geht dieses Mal um drei Themen:
Die jüdische Gemeinde von Thessaloniki, eines der historischen Zentren der sefardischen Diaspora, hat kulturelle Artefakte in der «Caja de Letras» des Instituto Cervantes in Madrid hinterlegt. Damit bringen beide Seiten ihre Verbundenheit zum Ausdruck.
Der US-amerikanische Fotograf Laurence Salzmann hat seine Begegnungen mit dem Judentum in Kolumbien in einem Film dokumentiert.
Rezepte sind wichtige kulturelle Legate und werden oft noch überliefert, wenn die gemeinsame Sprache längst verschwunden ist. Ich habe für diesen Newsletter, wie kann es anders sein, das leckere griechisch-jüdische Rezept für eine Auberginen-Kasserolle ausgesucht.
Am 28.02.2025 bin ich in Pension gegangen. So kann ich mich nun den Themen widmen, die mir richtig wichtig sind, freiberuflich. Auf Tertulia bleibe ich deshalb aktiv und habe schon viele Ideen!
Dieser Moment ist zugleich ein Einschnitt, der mir die Gelegenheit bietet, auf mein bisheriges Berufsleben zurückzublicken. So wie Prominente dies wöchentlich in der ZEIT-Kolumne «Was ich gerne früher gewusst hätte» machen, habe ich deshalb in Listenform notiert, was ich erst spät begriffen habe.
Die Revolution frisst ihre Kinder. Auch die technologische. Ach, Elon…
Pathos kommt gut. Junge Leute gehen erstaunlich unbefangen mit grossen Gefühlen um. Professionell agieren heisst eben nicht, Gefühle bei der Arbeit einfach auszublenden (so wie es in meiner Generation noch üblich war/ist).
Chrampfe darf nichts mit Freude zu tun haben. Ein Beispiel: «Du bist immer so gut gelaunt und lachst viel. Deine Mitarbeiter könnten glauben, Du nimmst die Arbeit nicht ernst.» (Einer meiner ex-Chefs)
Wer sich an die goldene Regel hält, dass Zuhören wichtiger als Reden ist, macht Fachkarriere.
Frauen machen nicht unbedingt Karriere, wenn sie ihre Projekte zuverlässig und erfolgreich abschliessen. Männer hingegen machen gerade dann Karriere, wenn sie Projekte (kontrolliert) an die Wand fahren, sie anschließend retten – und dafür als Helden gefeiert werden. Da ist es schon wieder, das Performative der Arbeit.
Wenn Du dich wieder einmal über die dummen Witze der Clowns ärgerst, hadere nicht mit den Clowns. Frage Dich, weshalb Du immer noch in den Zirkus gehst (Gefunden auf einem Corporate Blog. Der Spruch könnte aber auch in der Büroküche hängen.)
Ein Programmier-Gen? Ja, das muss es geben – und mir fehlt es. Leider.
Wenn Männer den Kinderarzt-Termin übernehmen, lassen sie gerne ihr Jacket am Bürostuhl hängen. Dann denken alle, sie seien in einem Meeting.
Nicht die Zahl neurodiverser Menschen hat so stark zugenommen – vielmehr ist unser Verständnis von dem, was die Norm darstellt, enger, starrer und ausgrenzender geworden.
«We meet wonderful people but lose them in our busyness.» (Dogs Songs, Mary Oliver)
Das Härteste an der Arbeit war für mich die Inszenierung derselben. Nun ist der Vorhang gefallen.
Diese Erkenntnisse sind nicht allein auf meinem Mist gewachsen, sondern verdanke ich Freunden, Kolleginnen und all jenen, die – ähnlich wie ich – über Kultur und Kommunikation in der Arbeitswelt nachgedacht haben. Die Liste spiegelt die Stationen meines Arbeitslebens wider: Bank, IT-Projektgeschäft, Beraterin, Kommunikationsdozentin an einer Hochschule.
Je länger ich über manches, was ich spät begriffen habe, nachdenke, desto mehr reizt es mich , dem weiter nachzugehen. Welches Thema davon soll ich als Erstes vertiefen? Gebt mir Feedback in den Kommentaren. Ich habe jetzt Zeit 😉.
«Ihr wollt Euch nur selbst hören.» (zitiert nach Pörksen, 2025, S. 271)
Mit diesem Ausruf einer Fotografin anlässlich der unversöhnlichen Debatte bei einem Lesemarathon von Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in Hamburg ist das Problem, dem sich Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch annimmt, sehr gut auf den Punkt gebracht. Wie schaffen wir es wieder, dass wir uns in gesellschaftlichen Diskursen gegenseitig zuhören können? Wann und unter welchen Bedingungen entsteht eine «kollektive Zuhörbereitschaft» (S. 24)? Ich habe Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen, für Euch gelesen.
Zuhören auf Reisen
Um Wege zu finden, die aus der Welt der kommunikativen Polarisierung, Ich-Vermarktung und dem Heischen nach Aufmerksamkeit herausführen, geht Bernhard Pörksen auf Reisen. Unterwegs spricht er mit Menschen, von denen er sich Lösungen für die grossen gesellschaftlichen Herausforderungen in Sachen Kommunikation verspricht. So trifft er sich immer wieder mit einem Jungunternehmer aus der Ukraine und diskutiert mit ihm darüber ist, wie man als angegriffenes Land in einer lauten Welt voller Katastrophenmeldungen und verbohrter Meinungen gehört werden kann. Dieses Interview hat nicht nur eine politische Seite, sondern auch eine menschliche. Über die Invasion der Ukraine zerbricht auch das Verhältnis Misha Katsurins mit seinem Vater, der in Russland lebt und die Erzählung des Kremls übernimmt. Er trifft ausserdem Stewart Brand, der im positiven Sinn den Mythos des Silicon Valley mitbegründet hat sowie den ehemaligen Gouverneur Kaliforniens Jerry Brown. Er schreibt über die Künstlerin Jenny Odell, den Internet-Ethiker Tristan Harris, den Klimajournalisten Andrew Revkin und spricht mit Luisa Neubauer in Hamburg. Doch er beginnt mit einer Reflexion, die ihm persönlich am Herzen liegt. Wie konnte es geschehen, dass in seinem eigenen progressiven pädagogischen Umfeld die Missbrauchs-Praxis an der Odenwald-Schule so lange vertuscht werden konnte? Wie konnte es sein, dass die Missbrauchten jahrelang kein Gehör fanden? Und wann wurden sie dann doch gehört? Auf diesen zentralen Fragen gründet Pörksen seine eigene Praxis des Zuhörens. Gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern und unter Rückgriff auf deren Umfeld analysiert er das allgegenwärtige kommunikative rabbit hole, in dem sich viele Menschen befinden, und überlegt in einem abschliessenden Kapitel, wie wir aus ebendiesem herauskommen könnten.
Bewertung
Angesichts des Titels könnte der Eindruck entstehen, es handle sich um einen Reader über Gesprächsführung, aber darum geht es ihm nicht. Es handelt sich nicht um ein Ratgeber-Buch, sondern einen Essayband. Als Medienwissenschaftler geht es ihm um konstruktive gesellschaftliche Diskursgestaltung. Alle sagen, was immer ihnen beliebt. Aber wer hört noch zu? Diese Analysen führt er stets konstruktiv und unterhaltsam aus; er wirkt nie belehrend wissend, sondern neugierig suchend und auch selbstkritisch. Das wirkt überzeugend, denn so erfahren wir, was es für ihn persönlich braucht, dass er zuhören kann. So kommt er zum Schluss:
Denn bevor man kritisiert, bevor man für andere Formen des pluralismusfreundlichen Sprechens und Schreibens plädiert und diese einübt, bevor man überhaupt zu einer einigermaßen begründbaren Reaktion gelangen kann, gilt es, sich dem anderen erst einmal zuzuwenden, fasziniert von seiner unvermeidlichen Fremdheit, voller Neugier und Vorfreude auf das, was sich zeigen und im Gespräch offenbaren könnte: Das ist der Weg des Zuhörens, das ist der Weg der Komplexitätssteigerung von Wahrnehmung durch die Konkretion und die Kontextbetrachtung, von dem dieses Buch handelte. (Pörksen, 275-276)
Am Ende verweist Pörksen die Verantwortung für den offenen gesellschaftlichen Diskurs also an das Individuum zurück, was mich als Schlussfolgerung ein wenig enttäuscht hat. Zwar stellt er bereits zu Beginn seiner Ausführungen methodisch fest, dass es nie nur um die individuelle Tiefengeschichte gehe, die den Grundstein für Zuhören lege, sondern um das Zusammenspiel dieser individuellen Erfahrungen mit kollektivpsychologischer Dynamik und medialen Rahmenbedingungen. Doch – so mein Gesamteindruck – lässt er das sowieso schon überforderte Individuum allein zurück in seinem kraftvoll formulierten Schlussappell, denn er lässt strukturelle Faktoren, die helfen könnten, das Individuum in seiner Offenheit zu bestärken oder diese Offenheit überhaupt erst wieder entstehen zu lassen, ungesagt. Es ist sicherlich so, dass jeder Mensch zunächst einmal sich selbst zuhören können muss, bevor er sich anderen gegenüber öffnen kann. Doch muss jeder das so ganz alleine schaffen? Braucht es dafür nicht eine systematische Schule der Offenheit bzw. Aufgeschlossenheit, die allen offen steht? Vielleicht liegt Pörksens Verweis auf die Verantwortung des Einzelnen für das Entstehen von Dialogräumen auch darin begründet, dass er sich von seinen Gesprächspartnern – ebenso wie er sind das ausserordentlich autark wirkende und mehr als selbstbewusste Persönlichkeiten – hat beeinflussen lassen. Ob diese ihm bei seinen Fragen immer zugehört haben?
Danke an den Hanser-Verlag, der mir für die Rezension ein kostenloses Buchexemplar zur Verfügung gestellt hat. Wer meine Arbeit auf diesem Blog finanziell unterstützen möchte, kann dies einmalig oder regelmässig tun: https://tertulia.ch/spenden/. Vielen Dank für die Wertschätzung! Jeder Betrag fliesst in diese Arbeit zurück.
„Ach, meine Liebe… das Leben ist Delirium. Ach, meine Liebe… diese Insel ist Selbstmord. Ach, meine Liebe…“1, so besingt Jorgito Kamankola seine Heimat Kuba. Für diesen Refrain hat sich der Musiker von Mario Conde inspirieren lassen, dem Protagonisten der Havanna-Romane Leonardo Paduras. Ich habe den letzten Mario-Condo-Roman, Personas decentes, in der deutschen Übersetzung von Peter Kultzen gelesen. Die Übersetzung trägt den Titel Anständige Leute und ist 2024 im Unionsverlag Zürich erschienen.
Mehrere Handlungsstränge
Padura wiederum lässt sich auch von Kamankola inspirieren und übernimmt den Refrain als Epigraph für seinen Roman. Welchen Herausforderungen muss sich seine Hauptfigur Mario Conde, der zwar schon seit langem nicht mehr Polizist ist, aber immer wieder seine alten Kollegen unterstützt, dieses Mal stellen? Worin genau besteht das Delirium, dass im Epigraph angesprochen wird? Wie immer entwirft Padura seine Handlung nicht linear, sondern verschränkt sie mit historischen Überlegungen und weiteren Geschichten.
Die erste Handlungsebene spielt im Havanna des Jahres 2016. Das ist das letzte Mal, in dem in Kuba wieder einmal die Hoffnung auf politische Erneuerung aufkam: Obama kommt zu Besuch. Die Rolling Stones geben ein Konzert. In diesem Kontext macht sich Mario Conde auf die Suche nach dem Mörder, der Reynaldo Quevedo, ein ehemaliges Mitglied des kubanischen Repressionsapparats, auf brutale Weise umgebracht hat.
Dieser bereicherte sich in den Jahren des sogenannten «Quinquenio gris» zu Beginn der Siebziger Jahre in der Form, dass er die Werke von Künstlern und Künsterinnen, die unter seiner Zensur und seinen Repressalien litten, an sich nahm und diese später für viel Geld weiterverkaufte. Dabei profitierte Quevedo von den Mittlerdiensten seines Schwiegersohns. Das «Quinquenio gris», die grauen Jahre, waren allgemein geprägt von kultureller Zensur. Künstler und Intellektuelle, vor allem solche der LGBT-Gemeinschaft, wurden schikaniert. Conde und die Polizei vermuten deshalb, dass es sich bei dem Mord um einen Racheakt handeln könnte. Diese zweite Ebene stellt im engeren Sinne keine eigene Handlungsebene dar, sondern wird über Erzählungen, Reflexionen und historische Hypothesenbildung eingeblendet.
Bei der dritten Handlungsebene springt Padura zurück in die Gründungsjahre Kubas, indem er seinen Helden Mario Conde eine Erzählung schreiben lässt. Der Ex-Polizist, Buchhändler und Türsteher im «Dulce vida» träumt nämlich davon, Schriftsteller zu werden. In seiner Geschichte geht es um den Aufstieg und die Ermordung des reichen Zuhälters Alberto Yarini, die aus der Perspektive des Polizisten Arturo Saborit erzählt wird. Diese zweite Erzählung aus dem Rotlichtmilieu Havannas der Jahre 1910/11 wechselt sich mit der Haupterzählung von 2016 ab.
Wir erhalten also gleich zwei Kriminalfälle in einem Buch und dazu ganz viel Geschichte geliefert, Napoleon Bonaparte inklusive.
Interpretation
In allen Handlungssträngen geht es um die Konstanten des Lebens auf Kuba. Unabhängig vom politischen System stehen Menschen in jeder historischen Epoche vor der Herausforderung, sich moralisch zu behaupten, also anständig zu bleiben. Ich möchte gerne einige zentrale Aspekte des Romans aufgreifen:
Der Roman nutzt das Genre des Kriminalromans, um eine tiefgreifende Kritik am kubanischen Machtsystem zu üben. Das kennen wir von Padura, ist aber sehr viel direkter und unverblümter als in früheren Büchern. Durch die Ermittlungen Mario Condes werden die Schattenseiten des Lebens auf Kuba beleuchtet – von Korruption über Machtmissbrauch bis hin zum moralischen Verfall. Der neue Mensch des Sozialismus ist wie der alte. Der Titel kann nur ironisch verstanden werden, da auch die vermeintlich „Anständigen“ zu Kriminellen werden können – aber ich möchte nicht zu viel verraten.
Durch die verschiedenen historischen Epochen, die im Roman eine Rolle spielen, gelingt es Padura auch, die sozialen Veränderungen in Kuba aufzuzeigen: von den Gründerjahren über die Repressalien des kubanischen Regimes bis hin zum tristen Alltag der Aktualität, der immer mehr Kubaner und Kubanerinnen den Rücken kehren wollen. Der Kontrast zwischen den Idealen der Revolution und der heutigen sozialen Realität wird auf jeder Seite des Romans deutlich. Die soziale Ungleichheit ist seit der Revolution unverändert gross geblieben – auch im Vergleich zu den mafiösen Gründerjahren, als sich Macht durch Gewalt definierte.
Zentral im Roman sind moralische Ambiguität und persönliche Integrität. Wie kann man in einem korrupten System – einem ungezügelten, mafiösen Kapitalismus auf der einen Seite, dem repressiven Sozialismus auf der anderen Seite – als Mensch anständig bleiben? Die Grenzen zwischen Gut und Böse können verschwimmen, wobei Mario Conde – auch selbst nicht ganz fehlerfrei – doch meist einen klaren Blick auf die Verwerfungen des Systems zu bewahren scheint. Dies gelingt ihm auf den ersten Blick vor allem deshalb, da er als Aussteiger aus dem System eine beobachtende Position einnehmen kann. Gerade die zweite Erzählung, von ihm geschrieben und möglicherweise mit autofiktionalen Einsprengseln, lässt aber lange offen, ob Mario Conde seine Integrität auf Dauer wahren kann. Das sorgt für Spannung bis zum Schluss.
Wertung
Obwohl mir der Einstieg nicht leicht fiel – zahlreiche Erläuterungen fand ich weitschweifig, Sätze waren zu lang und wirkten behäbig, das Namedropping zahlreicher Figuren aus dem Mario-Conde-Universum und eine zunächst lose wirkende Nebenhandlung nervten – entwickelt sich das Buch zum Positiven. Kritisch sehe ich die explizite Darstellung von Gewalt, Sexualpraktiken und sexuellen Abhängigkeitsverhältnissen, die mir teilweise unangebracht erschienen. Vielleicht bin ich einfach zu prüde und es ist so, dass Padura die explizite Darstellung bewusst nutzt, um die Widersprüche und Grauzonen aufzuzeigen, in denen sich Moral und Sexualität oft bewegen. Auch der Eindruck, dass Frauen vor allem über Prostitution aus der Armut finden, wirkte auf mich arg klischeehaft. Als ob Frauen sich in ihre Freier verlieben würden – dieser Mythos hält sich hartnäckig in schreibenden Männerköpfen.
Insgesamt ist Anständige Leute ein politisch ambitionierter Roman, der zwar nicht immer literarisch überzeugt, aber durch seine Vielschichtigkeit und historische Tiefe einen perspektivenreichen Blick auf Kubas Gesellschaft bietet.
Ein Dank geht an den Unions-Verlag, der mir das Rezensionsexemplar kostenlos zur Verfügung stellt. Wenn Ihr meine Arbeit unterstützen möchtet, könnt Ihr dies gerne über eine einmalige oder regelmässige Spende tun. Vielen Dank! Jede Spende sichert meine finanzielle Unabhängigkeit.
1 So übersetzt Peter Kultzen den Refrain des Lieds «La Isla del delirio» (Spanisches Original: «Ay amor… la vida es un delirio. Ay amor… esta isla es un suicidio. Ay amor…») Ich hätte «suicidio» eher metaphorisch-untertreibend mit «Himmelfahrtskommando» übersetzt, aber es gibt wohl einen konkreten Vorfall, auf den sich die Aussage bezieht.
Dieses Jahr stelle ich in meinem Newsletter auf Substack berühmte Bücher in spanischer Sprache vor, die 2025 einen runden Geburtstag feiern.
Diese Woche ist Quevedo Schelmenroman La vida del Buscón llamado Don Pablos, ejemplo de vagamundos y espejo de tacaños, kurz El Buscón genannt, an der Reihe. Das ist etwas verwegen, denn offiziell datiert die erste bekannte Ausgabe des Romans, der das Leben des jungen Pablos aus Segovia nachzeichnet, bekanntlich aus dem Jahr 1626. Sie erschien in Zaragoza. Wir müssten also noch ein Jahr warten, bis wir den Roman feiern könnten.
Nun ist es aber so, dass die Philologin María José Alonso Veloso anhand eines Briefes aus den Beständen der Real Academia de la Historia (RAH) die These aufstellt, dass der Roman bereits 1625 publiziert wurde. Ihre Argumente findet Ihr in meinem Newsletter.
Unabhängig vom Jahrestag lädt der Roman inhaltlich wie auch stilistisch jederzeit zur Lektüre ein. Das Buch gilt als einer der Höhepunkte des Schelmenromans, als ein herausragendes literarisches Zeugnis des Siglo de Oro und überzeugt durch seine ausgeprägte Sozialsatire und schwarzen Humor. Das passt auch heute noch gut…
Tobias Lamberts Buch Gescheiterte Utopie. Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávezanalysiert den Niedergang der venezolanischen Spielart des demokratischen Sozialismus und dessen Transformation in ein autoritäres Regime. Wer am 10. Januar 2025 gut informiert sein möchte – das ist der Tag, an dem sich der jetzige Präsident Nicolás Maduro gegen grosse Widerstände erneut vereidigen lassen will – sollte dieses Buch gelesen haben.
Worum geht es in dem Buch?
Das von Hugo Chávez initiierte Projekt einer demokratischen und antikapitalistischen Transformation Venezuelas („bolivarische Revolution“) ist gescheitert.
Die Regierung unter Nicolás Maduro hat sich zunehmend autoritär entwickelt, was sich in Wahlmanipulationen und Repression der bürgerlichen Opposition zeigt. Es gibt zudem keine nennenswerte Opposition aus linker Perspektive.
Die anhaltende wirtschaftliche Krise des Landes wird auf mehrere Faktoren zurückgeführt:
Extraktivismus
Misswirtschaft und Korruption in staatlichen Betrieben
Vernachlässigung von Investitionen und technologischer Modernisierung
Die enge Verflechtung von Militär und Regierung ist ein Garant für den Machterhalt auch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit.
Zunächst kann Chávez weite Teile der ärmeren Bevölkerung für sich gewinnen.
Lambert kritisiert die zunehmende Zentralisierung der Politik unter Chávez und später dann unter Maduro deutlich, die im Gegensatz zu den basisdemokratischen und partizipativen Initiativen der Anfangszeit des chavismo stehen.
Lambert analysiert ausserdem in einem einführenden Kapitel ausführlich die Vorbedingungen der venezolanischen Politik, die den Erfolg von Hugo Chávez erst möglich gemacht haben. Dieser Erfolg resultierte aus der Unzufriedenheit mit einer de-facto Zweiparteienherrschaft, die nicht in der Lage war, die hohe Exposure des Landes vom Erdölexport zukunftsfähig abzumildern. So schreibt Lambert über die Wirtschaftspolitik Venezuelas seit 1936:
1936 formulierte der venezolanische Schriftsteller Arturo Uslar Peitri in einem Zeitschriftenartikel den Anspruch „das Erdöl zu säen“ („sembrar el petróleo“). Damit bezog er sich ursprünglich darauf, mithilfe der Petrodollar den Agrarsektor zu entwickeln. Als Slogan sollte fortan praktisch jede venezolanische Regierung das Ziel verfolgen, die Wirtschaft mithilfe der Eröleinnahmen zu diversifizieren. (S. 13)
Bewertung
Das Buch ist faktenreich geschrieben und gut dokumentiert. Es ist auch sehr aktuell, da es sogar die umstrittenen Wahlen von 2024 mit beinhaltet, deren Ergebnis weiterhin ungewiss ist, so dass derzeit zwei Kandidaten die Präsidentschaft Venezuelas beanspruchen: Nicolás Maduro sowie der Oppositionsführer Edmundo González, dem die Verhaftung droht, sollte er am 10. Januar venezolanischen Boden betreten wollen. Lambert verhehlt nicht die ursprünglichen Sympathien für die politischen und sozialen Reformen, die zunächst geplant waren, zeigt aber auch schonungslos auf, was unter Chávez und Maduro politisch und wirtschaftlich schief gelaufen ist.
Ich habe drei kleinere Kritikpunkte am Buch: 1. Der Text ist sehr informationsreich und erfordert eine hohe Konzentration bei der Lektüre. Ich hätte mir neben dem hilfreichen Glossar daher zusätzliche Visualisierungen gewünscht, vor allem für die zahlreichen statistischen Angaben sowie für Namen, Ereignisse, Parteien und Bewegungen, damit ich mich als Leserin besser orientieren kann. 2. Ich hätte mir eine kurze Analyse der venezolanischen Opposition im Ausland gewünscht, denn bis Ende 2023 haben 7.7 Millionen Menschen ihre Heimat Venezuela verlassen. Gibt es einen stärkeren Beleg für das Scheitern der Utopie? 3. Ich hätte mir zudem eine kritische Auseinandersetzung mit der Begeisterung von Teilen der europäischen Linken mit dem chavismo gewünscht (insbesondere auch die finanziellen Verstrickungen), aber das wäre vielleicht ein anderes Buch. Lambert geht es hier aber eindeutig um die venezolanische Binnenperspektive. Die schätzt der Autor derzeit als wenig optimistisch ein (S. 224).
Der desencanto der deutschen Linken mit Venezuela ist allein schon daran abzulesen, dass es seit dem Tod Chávez‘ – gemäss Lamberts Recherche – keine nennenswerten deutschsprachigen Publikationen mehr gab. Von daher ist ein Buch, wie das Lamberts, überfällig. Wer also zum Thema Venezuela mitreden möchte, ob aus journalistischer oder wissenschaftlicher Perspektive, kommt an Tobias Lambert nicht vorbei.
Klar, Uruguay ist kein hochindustrialisiertes Land, das eine energieintensive chemische Industrie zufrieden stellen muss, noch gibt es eine nennenswerte metallerzeugende und -verarbeitende Industrie, die viel Energie braucht. Das südamerikanische Land ist in Europa vor allem für seine landwirtschaftliche Produktion bekannt. In der Tat bildet gefrorenes Rindfleisch das wichtigste Exportgut des Landes. Bereits jetzt produziert das Land Lebensmittel für 30 Millionen Menschen, z.B. Rindfleisch, Getreide, Reis und Soja – Tendenz steigend. Uruguay selbst hat 3.4 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen. Eine Mehrheit der Menschen in Uruguay ist im Dienstleistungsektor tätig. Dienstleistungen stellen 62 % des BIP.
Uruguay hat vor diesem Hintergrund in den letzen 10 Jahren eine überzeugende und konsistente Energiewende geschafft, die vielleicht nicht in allen industriellen Mappings übertragbar ist, aber vom politischen Framework und dem nationalen Willen zum Konsens eine überzeugende Transformation gezeigt hat, die für viele andere Länder Vorbild sein kann.
Darüber berichte ich in meinem aktuellen Newsletter. Die Energiewende ist mit einem Namen verbunden: Ramón Méndez Galain als verantwortlicher Programmverantwortlicher. Er hätte diese Transformation jedoch nicht geschafft, wenn er nicht die breite politische Rückendeckung gehabt hätte, die die Regierung unter Pepe Mujica und das tief verankerte Demokratieverständnis der uruguayischen Gesellschaft bereit stellten.
Der Mix macht`s – nicht nur energetisch, sondern auch von der Willensbildung her. Wäre das doch nur der politische Slogan für die Energiepolitik in unseren Breiten…
Es gibt Tage, da wäre auch ich gerne Berlinerin! Die Ausstellung zum „Surrealismus in Lateinamerika“ wird am 12. Dezember 2024 um 19 Uhr im Lesesaal des IAI eröffnet.
In Zürich liegt der erste Schnee. Zeit, endlich meine Fotos vom Sommer nochmals anzuschauen und das laufende Reisetagebuch zu aktualisieren. Auf meinem aktuellen Newsletter findet Ihr meinen Rückblick in englischer Sprache – mit vielen Fotos. Kommt mit nach Donostia, Olite und Bilbao. Hier geht’s zum Reisetagebuch: https://tertulia.substack.com/p/exploring-the-basque-country
PS: Wir waren auch noch in Hendaye, Hondarribia, Pamplona und Gernika, um auch ohne Wandern möglichst nah am Camino del Norte zu bleiben; aber dazu vielleicht später einmal mehr…
In meinem aktuellen Newsletter stelle ich den Roman El mundo que vimos arder (2023) des Schriftstellers und Journalisten Renato Cisneros vor. Der Roman erzählt abwechselnd die Schicksale zweier Protagonisten. Da ist zum einen der peruanische Journalist, der nach der Trennung von seiner Frau nach Spanien zurückkehrt, um sein Leben neu zu ordnen. Einige Jahrzehnte zuvor verlässt Matías Giurato Roeder, ebenfalls ein Peruaner, sein Heimatland und geht in die USA, wo er die Strapazen als Soldat die Schrecken des Zweiten Weltkriegs durchlebt.
Ich kann die Lektüre nur empfehlen, denn das Buch hat mich sehr bewegt. Besonders beeindruckend war für mich die Darstellung von Matías‘ traumatischen Kriegserfahrungen und deren Auswirkungen auf ihn. Manches US-College würde den Roman wohl mit Trigger-Warnungen ausstatten: Krieg, seelische, körperliche und sexualisierte Gewalt, Tod, Flucht und Migration.
Meine Reiseerlebnisse haben die Lektüre zusätzlich intensiviert. Ich las den Roman während meines Sommerurlaubs an der nordspanischen Atlantikküste, als ich auch Gernika besuchte. Gernika wurde 1937, mitten im Spanischen Bürgerkrieg, von der Legion Condor stark bombardiert. Die Zahl der zivilen Opfer ging in die Hunderte, wobei bis heute die genaue Zahl nicht ermittelt werden kann, da sich damals zahlreiche Flüchtlinge in der baskischen Stadt aufhielten. Eine Freiluftausstellung im Stadtzentrum dokumentiert die Bombardements. Die in El mundo que vimos arder geschilderten Kriegserfahrungen wirkten wie ein bedrückendes Echo, das meinen Besuch in Gernika noch eindringlicher und erschütternder machte.